Vermächtnis
würde. Offensichtlich galt es als völlig normal, dass ein Zehnjähriger sich selbst dazu entschloss, für unbestimmte Zeit von zu Hause wegzubleiben.
In manchen Gesellschaften werden solche längeren Ausflüge von Kindern ohne ihre Eltern sogar noch ausgedehnt und entwickeln sich zu einer anerkannten Adoption. Auf den Andamaneninseln zum Beispiel wohnen Kinder nach dem neunten oder zehnten Lebensjahr nur noch in seltenen Fällen bei ihren eigenen Eltern; sie werden oftmals von Pflegeeltern – häufig aus einer Nachbargruppe – adoptiert und tragen auf diese Weise dazu bei, die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Gruppen aufrechtzuerhalten. Bei den Iñupiat in Alaska kommt die Adoption von Kindern insbesondere innerhalb der Iñupiaq-Gruppen häufig vor. In der modernen Ersten Welt wird durch Adoption vor allem eine Verbindung zwischen dem Kind und den Adoptiveltern hergestellt, und bis vor kurzem erfuhren diese nicht einmal die Identität der biologischen Eltern, so dass eine Weiterführung der Beziehung zwischen den biologischen Eltern und dem Kind oder den Adoptiveltern ausgeschlossen war. Bei den Iñupiat dagegen diente die Adoption als Verbindung zwischen den beiden Elternpaaren sowie zwischen ihren Gruppen.
Ein wichtiger Unterschied zwischen Kleingesellschaften und großen Staatsgesellschaften besteht also darin, dass die Verantwortung für die Kinder in einer kleinen Gesellschaft weit über die Eltern hinaus verteilt ist. Die Ersatzeltern sind schon aus materiellen Gründen als zusätzliche Nahrungslieferanten und Beschützer wichtig. Studien aus der ganzen Welt zeigen übereinstimmend, dass Ersatzeltern die Überlebenschancen eines Kindes verbessern. Ersatzeltern sind aber auch psychologisch wichtig und dienen neben den Eltern als zusätzliche soziale Instanz und als Vorbild. Anthropologen, die bei Kleingesellschaften arbeiten, berichten häufig über die auffällige, frühzeitige Entwicklung der sozialen Fähigkeiten bei den Kindern und äußerten die Vermutung, dass die reichhaltigen Beziehungen zu Ersatzeltern zumindest eine Teilerklärung sind.
Einen ähnlichen Nutzen haben die Beziehungen zu Ersatzeltern auch in den Industriegesellschaften. Nach den Feststellungen US -amerikanischer Sozialarbeiter profitieren die Kinder vom Leben in großen Mehrgenerationenfamilien, in denen Ersatzeltern vorhanden sind. Babys unverheirateter amerikanischer Teenager mit niedrigem Einkommen, die als Mütter häufig unerfahren oder unachtsam sind, entwickeln sich schneller und erwerben mehr kognitive Fähigkeiten, wenn eine Großmutter oder ein älteres Geschwister vorhanden ist, ja schon wenn ein ausgebildeter Collegestudent nur regelmäßig zu Besuch kommt und mit dem Baby spielt. Die gleiche Wirkung haben auch die vielen Pflegepersonen in einem israelischen Kibbuz oder in einer guten Kindertagesstätte. Von meinen Bekannten habe ich viele Einzelfallberichte über Kinder gehört, die von schwierigen Eltern großgezogen wurden und sich dennoch zu sozial und kognitiv gut befähigten Erwachsenen entwickelten; häufig erzählten sie mir, ihre geistige Gesundheit sei durch regelmäßigen Kontakt mit einem einfühlsamen Erwachsenen gerettet worden, selbst wenn es sich bei diesem Erwachsenen nur um einen Klavierlehrer handelte, den sie einmal in der Woche zum Klavierunterricht sahen.
Umgang mit schreienden Säuglingen
Unter Kinderärzten und Psychologen gab es langwierige Diskussionen über die Frage, wie man am besten auf ein schreiendes Kleinkind reagiert. Natürlich prüfen die Eltern zuerst, ob das Kind Schmerzen hat oder tatsächlich Hilfe braucht. Aber angenommen, ihm fehlt offensichtlich nichts: Ist es dann besser, ein weinendes Kind in den Arm zu nehmen und zu trösten, oder soll man es hinlegen und schreien lassen, bis es von selbst aufhört, ganz gleich, wie lange es dauert? Schreit das Kind mehr, wenn seine Eltern es hinlegen und aus dem Zimmer gehen, oder wenn sie es weiter auf dem Arm behalten?
In dieser Frage herrschen in den einzelnen Staaten des Westens unterschiedliche Philosophien, und sie unterscheiden sich auch innerhalb desselben Landes von Generation zu Generation. Als ich vor über 50 Jahren in Deutschland lebte, besagte die allgemein herrschende Ansicht, man solle Kinder schreien lassen, und es sei schädlich, sich um ein Kind zu kümmern, das »ohne Grund« weint. Wie sich in Untersuchungen zeigte, wurde das Schreien eines deutschen Säuglings durchschnittlich in einem Drittel der
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