Vermächtnis
dem Pendelbus von der Gepäckausgabe des Flughafens zum Parkplatz der Autovermietung vorgespielt wurde, warnte uns: »Die Bundesgesetze schreiben vor, dass Kinder im Alter unter fünf Jahren oder mit einem Gewicht von weniger als 80 Pfund in einem behördlich zugelassenen Kindersitz transportiert werden müssen.« Jäger und Sammler würden davon ausgehen, dass eine solche Warnung niemandem zusteht außer dem Kind und vielleicht auch seinen Eltern und Gruppenmitgliedern, aber sicher nicht einem weit entfernten Bürokraten. Auch auf die Gefahr hin, übermäßig zu verallgemeinern, kann man sagen: Jäger und Sammler bestehen energisch auf Gleichberechtigung und schreiben niemandem vor, etwas Bestimmtes zu tun, nicht einmal einem Kind. Um noch weiter (vielleicht übermäßig) zu verallgemeinern, füge ich hinzu: Kleingesellschaften sind offenbar nicht annähernd so überzeugt wie wir modernen WEIRD -Menschen, dass Eltern für die Entwicklung eines Kindes verantwortlich sind und dass sie einen Einfluss darauf haben, was aus dem Kind wird.
Auf das Thema der Selbständigkeit haben viele Beobachter von Jäger- und Sammlergesellschaften großen Wert gelegt. Die Kinder der Aka-Pygmäen zum Beispiel haben Zugang zu den gleichen Ressourcen wie Erwachsene, in den Vereinigten Staaten dagegen gibt es vieles, das »nur für Erwachsene«, für Kinder aber verboten ist, darunter Waffen, Alkohol und zerbrechliche Gegenstände. Beim Volk der Martu in der westaustralischen Wüste ist es das schlimmste Vergehen, einem Kind den eigenen Willen aufzuzwingen, selbst wenn das Kind erst drei Jahre alt ist. Die Piraha-Indianer sehen in Kindern einfach Menschen, die weder verhätschelt werden müssen noch besonderen Schutz brauchen. Daniel Everett formuliert es so: »Sie [die Kinder der Piraha] werden fair behandelt, und man berücksichtigt ihre geringere Größe und Körperkraft, aber im Großen und Ganzen hält man sie qualitativ nicht für etwas anderes als die Erwachsenen … Durch die gesamte Philosophie der Kindererziehung zieht sich bei den Piraha ein darwinistischer Unterton. Ihre Erziehung bringt sehr widerstandsfähige, zähe Erwachsene hervor, die nicht davon ausgehen, dass irgendjemand ihnen etwas schuldet. Die Angehörigen des Piraha-Volkes wissen, dass ihr Überleben jeden Tag von den eigenen Fähigkeiten und Kräften abhängt … Da bei den Piraha Kinder gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft sind, gibt es bei ihnen auch kein Verbot, das auf Kinder zutrifft, nicht aber ebenso auf Erwachsene, und umgekehrt … Sie müssen selbst entscheiden, ob sie tun oder lassen, was ihre Gesellschaft von ihnen erwartet. Am Ende lernen sie, dass es ihren Interessen am besten dient, wenn sie ein wenig auf ihre Eltern hören.«
In manchen Gruppen von Jägern und Sammlern, aber auch in bäuerlichen Kleingesellschaften greifen Erwachsene selbst dann nicht ein, wenn kleine oder größere Kinder etwas Gefährliches tun, das ihnen tatsächlich schaden könnte, so dass Eltern im Westen mit einer strafrechtlichen Verfolgung rechnen müssten. Ich habe zuvor bereits erwähnt, wie überrascht ich im Hochland von Neuguinea war, als ich erfuhr, dass die Narben von Brandwunden, die so viele Erwachsene aus Enus Adoptivstamm trugen, häufig aus dem Säuglingsalter stammten, als der Säugling in der Nähe eines Feuers gespielt hatte – die Eltern waren der Ansicht gewesen, dass die Selbstbestimmung des Kindes auch das Recht beinhaltet, das Feuer zu berühren oder in seine Nähe zu kommen und die Folgen zu spüren. Bei den Hadza dürfen Säuglinge nach scharfen Messern greifen und daran lutschen (Abb. 19 ) . Bei den Piraha-Indianern beobachtete Daniel Everett folgenden Vorfall: »Uns fiel ein ungefähr zweijähriger Junge auf, der in der Hütte hinter unserem Gesprächspartner saß. Das Kind spielte mit einem scharfen, mehr als 20 Zentimeter langen Küchenmesser. Es schwang die Messerschneide hin und her, so dass sie häufig in die Nähe seiner Augen, der Brust, der Arme und anderer Körperteile kam, die man sich nicht gern abschneiden oder durchlöchern würde. Was uns dabei aber wirklich stutzig machte, war noch etwas anderes: Als er das Messer fallen ließ, griff seine Mutter, die sich mit jemand anderem unterhielt, lässig und ohne das Gespräch zu unterbrechen hinter sich, hob das Messer auf und gab es dem Kleinen wieder. Niemand sagte ihm, er dürfe sich damit nicht schneiden oder wehtun. Und er tat es auch nicht. Ich habe aber gesehen,
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