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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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verwöhnt ist und andere Tugenden hat, auf die moderne Erzieher und Kinderärzte Wert legen.
    Natürlich wurden solche gut geplanten Experimente und streng wissenschaftlichen Untersuchungen nicht durchgeführt. Stattdessen muss man auf chaotische natürliche Experimente und lockere Einzelfallberichte zurückgreifen und mit ihrer Hilfe Gesellschaften mit einer unterschiedlichen Praxis der Kindererziehung vergleichen. Zumindest kann man dabei zu dem Schluss gelangen, dass die prompten elterlichen Reaktionen auf schreiende Säuglinge in Gesellschaften von Jägern und Sammlern nicht regelmäßig Kinder entstehen lassen, denen es in auffälliger Weise an Selbständigkeit, Selbstvertrauen und anderen Tugenden mangelt. Auf die von Eindrücken geprägten Antworten, die Wissenschaftler auf diese Frage nach den langfristigen Folgen angeboten haben, werden wir später zurückkommen.
    Körperliche Züchtigung
    Im Zusammenhang mit diesen Debatten um die Frage, ob man ein Kind verzieht, wenn man sofort auf sein Schreien reagiert, stehen auch die altbekannten Diskussionen um die körperliche Züchtigung. Wird ein Kind verwöhnt, wenn man sie vermeidet? In den Einstellungen gegenüber der körperlichen Züchtigung von Kindern gibt es unter den Gesellschaften der Menschen große Unterschiede: Sie schwanken innerhalb einer Gesellschaft von Generation zu Generation und innerhalb derselben Generation zwischen benachbarten Gesellschaften. Was den Wandel innerhalb derselben Gesellschaft im Laufe der Generationen angeht, so wurden Kinder in den Vereinigten Staaten in der Generation meiner Eltern viel häufiger geschlagen als heute. Der deutsche Reichskanzler Bismarck erklärte, selbst innerhalb einer einzigen Familie würden in der Regel geschlagene und nicht geschlagene Generationen abwechseln. Das stimmt mit der Erfahrung vieler meiner amerikanischen Freunde überein: Wer als Kind geschlagen wurde, schwört sich, seinen eigenen Kindern nie solche barbarischen Grausamkeiten zuzufügen, und wer als Kind nicht geschlagen wurde, schwört sich, ein paar Prügel seien gesünder als die Manipulation der Schuldgefühle und andere Einflüsse auf das Verhalten, die an die Stelle der körperlichen Züchtigung treten, und Schläge seien besser, als Kinder völlig zu verziehen.
    Wenn man etwas über die Unterschiede zwischen Nachbargesellschaften der gleichen Epoche erfahren will, kann man das heutige Westeuropa betrachten. In Schweden ist die körperliche Züchtigung verboten; wenn schwedische Eltern ein Kind schlagen, machen sie sich wegen Kindesmisshandlung strafbar. Dagegen halten es viele meiner gebildet-liberalen deutschen und britischen Freunde, aber auch meine Bekannten unter den evangelikalen Christen in Amerika für besser, ein Kind zu schlagen, als es nicht zu schlagen. Wer sein Kind schlägt, zitiert gern den englischen Dichter Samuel Butler aus dem 17 . Jahrhundert (»Wer am Stock spart, verdirbt das Kind«) und den Dramatiker Menander aus dem antiken Athen (»Der Mann, der nie verprügelt wurde, hat nie etwas gelernt«). Ähnlich sind die Verhältnisse auch im modernen Afrika: Die Aka-Pygmäen schlagen ihre Kinder nie und schimpfen nicht einmal mit ihnen; die Erziehungsmethoden der benachbarten Ngangdu-Bauern, die ihre Kinder schlagen, halten sie für eine entsetzliche Misshandlung.
    Unterschiede in der Praxis der körperlichen Züchtigung kennzeichnen oder kennzeichneten nicht nur das moderne Europa und Afrika, sondern auch andere Epochen und andere Regionen der Erde. Im antiken Athen liefen die Kinder (trotz Menanders Ausspruch) unbeaufsichtigt herum, in Sparta dagegen war es zur gleichen Zeit nicht nur den Eltern, sondern jedem gestattet, ein Kind zu schlagen. In Neuguinea bestrafen manche Stämme ihre Babys nicht einmal dann, wenn sie mit scharfen Messern herumspielen, ich erlebte aber auch das umgekehrte Extrem in einem kleinen Dorf (Gasten), das nur aus einer Lichtung und einem Dutzend Hütten darum herum bestand. Das Dorfleben lag dort im Blickfeld aller Bewohner. Eines Morgens hörte ich wütendes Geschrei und blickte hinaus, weil ich wissen wollte, was los war. Eine Mutter war erbost über ihre achtjährige Tochter, schrie das Kind an und schlug es; die Tochter weinte und hielt sich die Arme vor das Gesicht, um die Schläge abzuwehren. Andere Erwachsene sahen zu, aber niemand griff ein. Die Mutter wurde immer wütender. Schließlich ging sie zum Rand der Lichtung, bückte sich, hob etwas auf, ging wieder zu dem Kind und

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