Vermächtnis
beobachtet wurden oder von denen sie gehört haben. Die Kinder spielen aus Spaß, aber das Spiel hat auch die Funktion, sie Tätigkeiten üben zu lassen, die sie später als Erwachsene ausführen müssen. Der Anthropologe Karl Haider beobachtete beispielsweise beim Volk der Dani im Hochland von Neuguinea, dass Kinder mit ihren Ausbildungsspielen alles nachahmen, was in der Welt der Erwachsenen vorgeht, mit Ausnahme von Ritualen, die Erwachsenen vorbehalten sind. Unter anderem kämpfen sie mit Speeren aus Gras; mit Speeren oder Stöcken »töten« sie »Armeen« aus Beeren, wobei sie realistisch vor- und zurücktreten wie Krieger, die vorrücken und sich zurückziehen; sie machen Zielübungen an hängendem Moos und an Ameisenhaufen; sie machen zum Spaß Jagd auf Vögel; sie bauen nachgeahmte Hütten und nachgeahmte Gärten mit Gräben; eine Blume wird an einer Schnur hinterhergezogen, als wäre sie ein Schwein, und sie wird auch mit den Dani-Worten für »Schweinchen« angesprochen; und nachts versammeln sie sich um ein Feuer, sehen zu, wie ein brennender Stock herabfällt, und tun so, als wäre die Person, auf die der Stock zeigt, der zukünftige Schwager.
Während sich das Leben der Erwachsenen und die Spiele der Kinder im Hochland von Neuguinea um Kriege und Schweine drehen, stehen beim Volk der Nuer im Sudan die Rinder im Mittelpunkt des Lebens der Erwachsenen. Entsprechend sind Rinder auch der Gegenstand der Spiele von Nuer-Kindern: Sie bauen Krals (Gehege) aus Sand, Asche und Lehm, und statten diese mit aus Lehm geformten Spielzeugrindern aus, mit denen sie dann Viehzucht spielen. Bei den Mailu, die an der Küste Neuguineas leben und mit Segelkanus auf Fischfang gehen, spielen Kinder »Segeln« mit Spielzeugbooten, wobei auch Spielzeugnetze und ein Spielzeugspeer zum Fangen der Fische zum Einsatz kommen. Kinder der Yanomamo-Indianer in Brasilien und Venezuela spielen, wie sie die Pflanzen und Tiere des Amazonas-Regenwaldes erkunden, der ihr Zuhause ist. Entsprechend werden sie schon in jungen Jahren zu guten Kennern der Natur.
Bei den Siriono-Indianern in Bolivien erhält ein kleiner Junge schon mit drei Monaten von seinem Vater einen winzigen Bogen und Pfeile, obwohl er beides noch einige Jahre nicht benutzen kann. Wenn der Junge drei Jahre alt ist, schießt er auf unbelebte Ziele, dann auf Insekten, als Nächstes auf Vögel, und mit acht Jahren begleitet der Junge seinen Vater bereits auf Jagdausflüge; als Zwölfjähriger ist er dann ein fertiger Jäger. Die Mädchen spielen bei den Siriono im Alter von drei Jahren mit kleinen Spindeln; sie spinnen, stellen Körbe und Töpfe her und helfen der Mutter im Haushalt. Pfeil und Bogen für die Jungen und die Spindel für die Mädchen sind bei den Siriono die einzigen Spielzeuge. Organisierte Spiele wie unser Fangen oder Verstecken gibt es nicht; lediglich die Jungen ringen.
Im Gegensatz zu all diesen »Ausbildungsspielen«, mit denen Tätigkeiten der Erwachsenen nachgeahmt und die Kinder darauf vorbereitet werden, gibt es bei den Dani auch andere Spiele, die nach Ansicht von Karl Haider nicht der Ausbildung dienen, weil Kinder darin nicht offenkundig in den späteren Tätigkeiten der Erwachsenen trainiert werden. Dazu gehört die Herstellung von Figuren aus Fäden und von Mustern aus geknotetem Gras, Purzelbäume einen Abhang hinunter und das Herumführen von Nashornkäfern an einer »Hundeleine« aus Gras, die in dem Loch befestigt wird, nachdem man dem Käfer die Hörner abgebrochen hat. Dies alles sind Beispiele für die »Kinderkultur«, wie man sie nennt: Kinder lernen, mit anderen Kindern zurechtzukommen, und beschäftigen sich mit Spielen, die nichts mit dem Erwachsenwerden zu tun haben. Die Grenze zwischen Ausbildungsspielen und anderen spielerischen Tätigkeiten ist jedoch oftmals verschwommen. Bei den Dani beispielsweise besteht ein Fadenfigurenspiel darin, dass man zwei Schleifen herstellt, die einen Mann und eine Frau darstellen sollen; diese kommen dann von beiden Seiten aufeinander zu und »kopulieren«; und das Herumführen eines Käfers an einer Leine kann man auch als Übung für das Herumführen von Schweinen betrachten.
Ein Aspekt, der in den Spielen der Gesellschaften von Jägern und Sammlern, aber auch in den kleinsten Bauerngesellschaften regelmäßig zutage tritt, ist das Fehlen von Konkurrenz oder Wettbewerben. Während es in Nordamerika zu vielen Spielen dazugehört, dass man Punkte zählt und gewinnt oder verliert, kommt es bei Jägern
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