Vermächtnis
Kindererziehungsmethoden der Jäger und Sammler sind es durchaus wert, dass wir eine Nachahmung erwägen.
Natürlich will ich damit nicht sagen, wir sollten alle Kindererziehungsmethoden der Jäger und Sammler nachahmen. Ich empfehle nicht, zur Praxis des selektiven Säuglingsmordes zurückzukehren, bei Entbindungen ein hohes Risiko einzugehen oder zuzulassen, dass Kleinkinder mit Messern spielen und sich am Feuer verbrennen. Manche anderen Aspekte der Kindheit von Jägern und Sammlern jedoch, beispielsweise die Zulässigkeit kindlicher Sex-Spiele, verursachen uns häufig ungute Gefühle, obwohl sich kaum nachweisen lässt, dass sie für Kinder wirklich schädlich sind. Wieder andere Praktiken werden heute in Staatsgesellschaften von manchen Menschen übernommen, während andere sich dabei unwohl fühlen; dies gilt beispielsweise für Säuglinge, die in demselben Zimmer oder im selben Bett wie die Eltern schlafen, für das Stillen von Kindern bis zum dritten oder vierten Lebensjahr oder für den Verzicht auf die körperliche Züchtigung von Kindern.
Manche anderen Kindererziehungsmethoden der Jäger und Sammler dagegen könnten gut in moderne Staatsgesellschaften passen. Es ist für uns ohne weiteres praktikabel, Kinder in aufrechter Körperhaltung und mit dem Gesicht nach vorn zu transportieren, statt sie waagerecht in einen Kinderwagen zu legen oder aufrecht, aber mit rückwärtsgewandtem Gesicht in ein Tragegestell zu setzen. Wir könnten schnell und einheitlich auf das Geschrei eines Säuglings reagieren, unsere Kinder in größerem Umfang von Ersatzeltern versorgen lassen und weit mehr Körperkontakt zwischen Säuglingen und Pflegepersonen zulassen. Wir könnten Kinder zum selbsterfundenen Spielen ermutigen, statt solche Spiele abzuwürgen, indem wir ihnen ständig kompliziertes sogenanntes pädagogisches Spielzeug geben. Wir könnten altersgemischte Spielgruppen zusammenstellen, statt Kinder immer nur mit ihren Altersgenossen spielen zu lassen. Und wir könnten, soweit es ungefährlich ist, einem Kind beim Erkunden seiner Umwelt so viel Freiheit wie möglich lassen.
Ich selbst muss häufig über die Menschen aus Neuguinea nachdenken, bei denen ich seit 49 Jahren arbeite, und ebenso gehen mir oft die Kommentare anderer Menschen aus dem Westen durch den Kopf, die während jahrelanger Aufenthalte in Gesellschaften von Jägern und Sammlern zugesehen haben, wie dort die Kinder groß werden. Eines fällt dabei den anderen Autoren aus dem Westen und mir immer wieder auf: die emotionale Sicherheit, das Selbstvertrauen, die Neugier und Selbständigkeit der Menschen aus Kleingesellschaften, und zwar nicht nur der Erwachsenen, sondern auch schon der Kinder. Wir beobachten, dass die Menschen in Kleingesellschaften viel mehr Zeit darauf verwenden, miteinander zu reden, und dafür opfern sie keinerlei Zeit für passive, von außen gelieferte Unterhaltung wie Fernsehen, Videospiele und Bücher. Uns fällt auf, wie frühzeitig die sozialen Fähigkeiten bei ihren Kindern entwickelt sind. Die meisten von uns bewundern solche Qualitäten und würden sie gerne auch bei ihren eigenen Kindern wiederfinden, aber wir arbeiten der Entwicklung solcher Fähigkeiten entgegen, indem wir unsere Kinder einordnen, einstufen und ihnen ständig sagen, was sie tun sollen. Die Identitätskrisen, die amerikanische Teenager plagen, sind für die Kinder von Jägern und Sammlern kein Thema. Nach den Vermutungen der Autoren aus dem Westen, die bei Jägern und Sammlern oder anderen Kleingesellschaften gelebt haben, entwickeln sich solche bewundernswerten Fähigkeiten durch die Art und Weise, wie Kinder großgezogen werden: Sie wurden lange gestillt, haben über Jahre in der Nähe der Eltern geschlafen, hatten durch Ersatzeltern viel mehr soziale Vorbilder, wurden durch ständigen Körperkontakt und die Nähe von Pflegepersonen stärker sozial angeregt, auf ihr Schreien wurde sofort reagiert, und das Ausmaß der körperlichen Züchtigung war gering – alles Einflüsse, die zu einer ständigen Sicherheit und Anregung beitragen.
Aber unser Eindruck, Erwachsene seien in Kleingesellschaften selbstsicherer, selbständiger und mit besseren sozialen Fähigkeiten ausgestattet, ist eben nur ein Eindruck: Solche Eigenschaften zu messen und nachzuweisen, ist schwierig. Und selbst wenn der Eindruck auf Realität beruht, lässt sich kaum nachweisen, dass er das Ergebnis von langer Stillzeit, Ersatzeltern und so weiter ist. Zumindest eines kann man aber
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