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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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will ich sicher keine Empfehlung für solche Alternativen aussprechen; ich beobachte nur, dass solche Maßnahmen immer häufiger diskutiert, ergriffen und von Gesetzgebern und Gerichten erörtert werden.
    Die Umkehr der Bevölkerungspyramide hat auch eine andere Folge: Soweit ältere Menschen für die Gesellschaft noch wertvoll sind (zum Beispiel wegen ihrer langjährigen, vielfältigen Erfahrungen), wird jeder einzelne alte Mensch weniger wertvoll, weil es so viele andere gibt, die den gleichen Wert verkörpern. Die achtzigjährige Frau von Rennell Island, die sich noch an den hungikengi erinnerte, wäre viel weniger nützlich, wenn noch 100 andere am Leben wären, die den Wirbelsturm ebenfalls miterlebt haben.
    Die Alterung verläuft bei Männern und Frauen unterschiedlich. In der Ersten Welt erfreuen sich Frauen im Durchschnitt eines längeren Lebens als Männer, und daraus folgt natürlich, dass eine Frau mit viel höherer Wahrscheinlichkeit Witwe wird, als dass ein Mann verwitwet. In den Vereinigten Staaten sind beispielsweise 80  Prozent der älteren Männer verheiratet, und nur zwölf Prozent sind Witwer; umgekehrt sind aber weniger als 40  Prozent der älteren Frauen verheiratet, und über die Hälfte von ihnen sind Witwen. Das liegt zum Teil an der längeren Lebenserwartung der Frauen, zum Teil aber auch daran, dass Männer in der Regel bei der Eheschließung älter sind als ihre Frauen und dass verwitwete Männer häufiger wieder heiraten (wobei die neue Ehefrau meist beträchtlich jünger ist) als verwitwete Frauen.
    Traditionell verbrachten alte Menschen ihre letzten Jahre in derselben Gruppe oder (in einer sesshaften Gesellschaft) in derselben Siedlung, ja oft sogar in demselben Haus, in dem sie auch während ihres gesamten Erwachsenenlebens oder sogar überhaupt während ihres Lebens gewohnt hatten. Dort unterhielten sie weiterhin die sozialen Bindungen, von denen sie während ihres ganzen Lebens getragen wurden, darunter auch solche zu noch lebenden lebenslangen Freunden und mit zumindest einigen ihrer Kinder. Söhne und/oder Töchter lebten in der Regel ganz in der Nähe, je nachdem, ob es in der jeweiligen Gesellschaft üblich war, dass eine Braut nach der Eheschließung zu den Eltern des Bräutigams oder der Bräutigam zu den Eltern der Braut zog.
    In der modernen Ersten Welt sind diese beständigen sozialen Bindungen, die bis ins hohe Alter erhalten bleiben, schwächer geworden oder ganz verschwunden. Wie es unserer Sitte des neolokalen Wohnsitzes entspricht, leben Braut und Bräutigam weder in der Nähe ihrer noch in der Nähe seiner Eltern, sondern sie suchen sich einen eigenen, von diesen getrennten Wohnsitz. Die Folge ist das moderne Phänomen des Leeres-Nest-Syndroms, wie es genannt wird. Anfang des 19 . Jahrhunderts starb in den Vereinigten Staaten häufig mindestens ein Elternteil, bevor das jüngste Kind zu Hause auszog, so dass diese Person nie ein leeres Nest erlebte; im Durchschnitt aller Eltern dauerte die Phase des leeren Nestes noch nicht einmal zwei Jahre. Heute leben die meisten amerikanischen Eltern länger und erleben ein leeres Nest über mehr als ein Jahrzehnt hinweg, häufig sogar über mehrere Jahrzehnte.
    Betagte Eltern, die in unserer Gesellschaft der leeren Nester sich selbst überlassen bleiben, wohnen häufig auch nicht in der Nähe lebenslanger Freunde. Jedes Jahr ziehen ungefähr 20  Prozent der US -Bevölkerung um, das heißt, betagte Eltern und/oder ihre Freunde haben mit großer Wahrscheinlichkeit seit der Kindheit mehrmals den Wohnsitz gewechselt. Häufig sehen die Lebensumstände älterer Menschen so aus: Sie ziehen zu einem ihrer Kinder, werden damit aber von ihren Freunden abgeschnitten, weil das Kind nicht mehr im ursprünglichen Elternhaus lebt; oder sie leben so lange wie möglich allein und haben einige Freunde in der Nähe, dafür sind aber die Kinder unter Umständen weit weg; oder sie wohnen in großer Entfernung von lebenslangen Freunden wie auch von Kindern in einem Altersheim, wo sie Besuch von den Kindern bekommen oder auch nicht. Diese Situation veranlasste meinen Bekannten von den Fidschi-Inseln, den ich im ersten Absatz zitiert habe, zu seinem empörten Vorwurf: »Ihr werft eure alten Menschen und eure eigenen Eltern weg!«
    Ein weiterer Faktor, der in unserer Gesellschaft neben der neolokalen Wohnortwahl und dem häufigen Wohnsitzwechsel ebenfalls zur sozialen Isolation älterer Menschen beiträgt, ist der formale Rückzug aus dem Arbeitsleben.

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