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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Angehörigen zu kümmern.
    In gemäßigter Form findet man dieses Phänomen bei einer Horde der !Kung, bei der die Besitzrechte am Land (die n!ore) nicht bei der gesamten Horde liegen, sondern bei ihren ältesten Mitgliedern. Striktere Beispiele sind bei Gesellschaften von Bauern und Viehzüchtern nahezu allgemein verbreitet: Die älteste Generation besitzt – in der Regel in Form des Patriarchen – bis ins hohe Alter und häufig bis zum Tod das Land, das Vieh und andere wertvolle Besitztümer. Damit erfreut sich der Patriarch einer beherrschenden Position, und er kann seine Kinder veranlassen, ihn weiterhin im Haus der Familie wohnen zu lassen und zu versorgen. Im Alten Testament wird beispielsweise beschrieben, wie Abraham und andere hebräische Patriarchen im hohen Alter viel Vieh besaßen. Alte Tschuktschen-Männer besitzen Rentiere, alte Mongolen besitzen Pferde, alte Navajo besitzen Pferde, Schafe, Rinder und Ziegen, und alte Kasachen besitzen die gleichen Tiere sowie Kamele. Mit ihrer Befehlsgewalt über Nutztiere, Ackerland und (heutzutage) andere Besitztümer und finanzielle Vermögenswerte verfügen ältere Menschen gegenüber der jüngeren Generation über ein starkes Druckmittel.
    In vielen Gesellschaften übt die ältere Generation eine so große Macht aus, dass ihre Regierungsform als »Gerontokratie« bezeichnet wird, das heißt als Tyrannei durch die Älteren. Beispiele sind die alten Hebräer, viele Gesellschaften afrikanischer Viehzüchter, viele Stämme der australischen Aborigines und (eher in der Nähe meiner Leser) die ländlichen Gebiete Irlands. Donald Cowgill fasst es so zusammen: »Hier [in Irland] ist es üblich, dass ein älterer Mann das Eigentum und die Verfügungsgewalt über den Hof der Familie bis ins sehr hohe Alter behält. Seine Söhne sind weiterhin als unbezahlte Arbeitskräfte tätig, sind wirtschaftlich völlig von dem Bauern abhängig und können nicht heiraten, weil ihnen eigene Mittel zum Unterhalt einer Familie fehlen. Da es kein festgelegtes, eindeutiges Erbschaftssystem gibt, kann der Vater ein Kind gegen das andere ausspielen, wobei er die Aussicht auf eine Erbschaft als ›eine Art Erpressung‹ einsetzt, um die Kinder (die über 30 oder über 40  Jahre alt sind) gefügig zu machen. Am Ende übergibt er den Hof einem Sohn, wobei er sorgfältig darauf achtet, dass das ›Westzimmer‹ – der geräumigste und am besten möblierte Raum – ihm selbst und seiner Frau vorbehalten bleibt und dass beide für den Rest ihres Lebens finanziell unterstützt werden.«
    Angesichts unserer eigenen Kenntnisse über die Macht, deren ältere Menschen sich in unserer Gesellschaft auf dem Weg über ihre Eigentumsrechte erfreuen, können wir jetzt besser verstehen, warum wir uns anfangs völlig zu Unrecht darüber gewundert haben, dass es älteren Menschen in traditionellen Gesellschaften gelingt, Nahrungstabus durchzusetzen und sich die jungen Ehefrauen zu sichern. Als ich zum ersten Mal von solchen Sitten hörte, fragte ich mich: »Warum isst ein einzelner junger Stammesangehöriger nicht einfach Delikatessen wie Knochenmark und Wildfleisch, und warum heiratet er nicht einfach eine hübsche junge Frau seiner Wahl, statt bis zum 40 . Lebensjahr zu warten?« Die Antwort: Er tut es aus den gleichen Gründen nicht, aus denen es auch jungen Erwachsenen in unserer Gesellschaft nur selten gelingt, sich das Eigentum ihrer Eltern gegen deren Willen anzueignen. Unsere jungen Erwachsenen tun es nicht, weil sie dann nicht nur ihre schwachen alten Eltern gegen sich hätten, sondern auch die ganze Gesellschaft, die solche Regeln durchsetzt. Und warum revoltieren nicht alle jungen Stammesangehörigen gleichzeitig und sagen: »Wir ändern die Regeln, so dass von jetzt an auch junge Männer das Knochenmark essen können«? Sie unterlassen es aus dem gleichen Grund, aus dem auch die jungen Amerikaner nicht revoltieren und die Nachlassregeln ändern: Eine Veränderung der Grundregeln ist in jeder Gesellschaft ein langwieriger, schwieriger Prozess, ältere Menschen haben viele Druckmittel, mit denen sie sich einer solchen Veränderung widersetzen können, und die erlernte Ehrerbietung und der Respekt gegenüber den Älteren verschwinden nicht über Nacht.
    Ist es heute besser oder schlechter?
    Was hat sich heute im Vergleich zur Stellung der Älteren in traditionellen Gesellschaften geändert? Eine ganze Reihe von Faktoren hat sich ungeheuer stark zum Besseren gewandelt, in vielen anderen Aspekten

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