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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Dieses Phänomen fand erst gegen Ende des 19 . Jahrhunderts allgemeine Verbreitung. Vorher arbeiteten die Menschen so lange, bis entweder ihr Körper oder ihr Geist es nicht mehr zuließen. Heute ist der Ruhestand in den Industriestaaten nahezu überall Vorschrift; das Alter schwankt zwischen 50 und 70  Jahren je nach dem Land (in Japan liegt es beispielsweise niedriger als in Norwegen) und nach dem Beruf (für Piloten bei Fluggesellschaften liegt es niedriger als bei Universitätsprofessoren). In der modernen Industriegesellschaft wirken drei Trends zugunsten eines offiziell verordneten Ruhestandes zusammen. Einer ist die längere Lebensdauer, die dazu führt, dass viele Menschen ein hohes Alter erreichen und dann nicht mehr arbeiten können. In einer Zeit, in der die durchschnittliche Lebenserwartung ohnehin nur 50  Jahre betrug, bestand kein Bedarf für ein offizielles System, das den Ruhestand mit 60 oder 70  Jahren vorschrieb. Ein zweiter Trend ist die zunehmende Produktivität der Wirtschaft: Eine Zahl von Arbeitskräften, die einen kleineren Anteil der Gesamtbevölkerung ausmacht, kann einen größeren nicht mehr arbeitenden Bevölkerungsanteil finanzieren.
    Der dritte Trend schließlich, der den formellen Ruhestand begünstigt, sind die verschiedenartigen Sozialsysteme, die für die wirtschaftliche Unterstützung der Ruheständler sorgen. Staatlich verordnete oder vom Staat unterstützte Pensionen wurden in Deutschland erstmals in den 1880 er Jahren unter dem Reichskanzler Bismarck eingeführt, verbreiteten sich in den folgenden Jahrzehnten in anderen west- und nordeuropäischen Staaten sowie in Neuseeland und erreichten 1935 mit der Verabschiedung des Social Security Act auch die Vereinigten Staaten. Damit soll aber nicht behauptet werden, die Zwangsverrentung sei ein ungetrübter Segen: Viele Menschen sind gezwungen, sich in einem willkürlich festgesetzten Alter (zum Beispiel mit 65 oder 60  Jahren) zur Ruhe zu setzen, obwohl sie gern weiterarbeiten würden, dazu auch in der Lage wären und unter Umständen sogar auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit stehen. Andererseits bestehen aber auch keine Einwände dagegen, dass Menschen zumindest die Alternative haben, in den Ruhestand zu gehen, und dass der Staat einen Mechanismus (der sich auf ihren eigenen Verdienst während ihres Arbeitslebens stützt) zur Verfügung stellt, der sie wirtschaftlich unterstützt, wenn sie sich zum Ruhestand entschließen. Ein neues Problem jedoch, das durch den Ruhestand geschaffen wird, muss man zur Kenntnis nehmen und lösen: Lebenslange Arbeitsbeziehungen zerbrechen, und damit fällt der Ruheständler noch tiefer in die soziale Isolation, die sich ohnehin aus neolokaler Wohnortwahl und Mobilität ergibt.
    Eine andere moderne Institution, die langjährige Probleme des Älterwerdens löst, gleichzeitig aber auch neue Probleme schafft, sind die spezialisierten Einrichtungen, in denen alte Menschen wohnen und getrennt von ihren Familien gepflegt werden. Zwar nahmen Klöster und Abteien auch in der entfernten Vergangenheit schon manche alten Menschen auf, das erste offizielle Altersheim jedoch wurde nach heutiger Kenntnis erst 1740 in Österreich unter der Kaiserin Maria Theresia gegründet. Es gibt unterschiedliche Formen solcher Einrichtungen, und sie haben unterschiedliche Namen: Altersheime, Seniorenresidenzen, Pflegeheime und Hospize. Sie alle tragen der modernen demographischen Realität Rechnung: Mehr alte Menschen sind noch am Leben, weniger erwachsene Kinder stehen zur Verfügung und könnten sich um sie kümmern, und die meisten dieser erwachsenen Kinder arbeiten außer Haus, so dass sie einen alten Menschen nicht tagsüber pflegen können. Wenn solche Einrichtungen für ältere Menschen gut funktionieren, können sie neue soziale Beziehungen bieten, die an die Stelle jener lebenslangen Bindungen treten, die mit dem Wechsel des alten Menschen in die Einrichtung verlorengehen. In vielen Fällen jedoch tragen sie ebenfalls zur Isolation bei, weil sie einen Ort darstellen, an denen Kinder ihre betagten Eltern zurücklassen können; deren materielle Bedürfnisse werden dann zwar mehr oder weniger ausreichend befriedigt, den sozialen Bedürfnissen werden die Einrichtungen aber nicht gerecht, weil die erwachsenen Kinder (die wissen, dass den materiellen Bedürfnissen Rechnung getragen wird) vielleicht einmal am Tag, einmal in der Woche, einmal im Jahr oder nie zu Besuch kommen – das alles gibt es in meinem

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