Vermächtnis

treffen, wenn sie von den Überlebenden des letzten Weltkrieges hören, wie es damals, vor mehr als 65  Jahren, war. Diese beiden kleinen Erlebnisse machen deutlich, warum es Programme gibt, durch die ältere Menschen und Oberschüler einander begegnen sollen – die Schüler hören und lernen aus den eindringlichsten Berichten über Ereignisse, die ihnen vielleicht eine Lehre sein können.
    Mein letzter Vorschlag lautet: Wir sollten die Veränderung von Stärken und Schwächen, die sich mit dem Älterwerden einstellen, verstehen und nutzen. Auch auf die Gefahr hin, allzu allgemeine Aussagen über ein umfangreiches, kompliziertes Thema zu machen, ohne sie mit Belegen zu untermauern, kann man sagen: Zu den nützlichen Eigenschaften, die mit dem Alter schwächer werden, gehören Ehrgeiz, Konkurrenzbewusstsein, Körperkraft und Ausdauer, die Fähigkeit, sich längere Zeit zu konzentrieren oder neuartige Überlegungen zur Lösung genau definierter Probleme anzustellen (beispielsweise über die Struktur der DNA oder viele Fragestellungen der reinen Mathematik, die man am besten Wissenschaftlern unter 40  Jahren überlässt). Umgekehrt werden andere nützliche Eigenschaften mit dem Alter stärker, so die Erfahrungen auf dem eigenen Fachgebiet, das Verständnis für Menschen und zwischenmenschliche Beziehungen, die Fähigkeit, anderen Menschen zu helfen, ohne dass einem das eigene Ego in die Quere kommt, und die Fähigkeit zum synthetischen, fachübergreifenden Denken zur Lösung komplizierter Probleme, in die vielfältige Ausgangsdaten einfließen (beispielsweise die Entstehung der Arten, biogeographische Artenverteilung oder vergleichende Geschichtsforschung, die man am besten von Wissenschaftlern über 40  Jahre bearbeiten lässt). Diese wechselnden Stärken haben zur Folge, dass viele ältere Arbeitskräfte sich entschließen, ihre Anstrengungen zu einem größeren Teil auf Aufsicht, Verwaltung, Beratung, Lehre, Strategieentwicklung und Zusammenfassung zu verwenden. Einige Bauern, mit denen ich befreundet bin und die bereits über 80 sind, verbringen beispielsweise weniger Zeit auf dem Pferd oder auf dem Traktor, treffen dafür aber strategische Entscheidungen über die geschäftlichen Aspekte der Landwirtschaft; befreundete Anwälte verbringen im höheren Alter weniger Zeit im Gerichtssaal und beraten stattdessen lieber jüngere Kollegen; und ältere Bekannte, die Chirurgen sind, führen weniger langwierige oder komplizierte Operationen durch und bilden stattdessen lieber junge Ärzte aus.
    Für die Gesamtgesellschaft stellt sich die Aufgabe, ältere Menschen das tun zu lassen, was sie gut können und gern tun, statt von ihnen zu verlangen, dass sie weiterhin die 60 -Stunden-Woche ehrgeiziger junger Arbeitskräfte bewältigen, oder sie – das andere Extrem – zwangsweise in einem willkürlich festgesetzten Alter in ein stupides Rentnerdasein zu schicken (was leider in Europa immer noch weit verbreitet ist). Für die älteren Menschen selbst besteht die Aufgabe darin, sich selbst zu prüfen, die eigenen Veränderungen zur Kenntnis zu nehmen und Tätigkeiten zu finden, in denen sie ihre jetzigen Begabungen nutzen können. Als Beispiel können wir zwei große Musiker betrachten. Beide waren mit sich selbst ehrlich und sprachen offen darüber, was für Musik sie auf ihre alten Tage schreiben oder nicht schreiben konnten (Abb.  40 , 41 ). Stefan Zweig, der Librettist des Komponisten Richard Strauss, berichtet über das erste Zusammentreffen der beiden, bei dem Strauss 67  Jahre alt war: »So bekannte Strauss mir freiwillig gleich in der ersten Stunde, er wisse wohl, dass ein Musiker mit siebzig Jahren nicht mehr die ursprüngliche Kraft der musikalischen Inspiration besitze, symphonische Werke wie
Till Eulenspiegel
oder
Tod und Verklärung
würden ihm kaum mehr gelingen, denn gerade die reine Musik bedürfe eines Höchstmaßes von schöpferischer Frische.« Wie Strauss aber weiter erklärte, fühlte er sich immer noch durch Situationen und Worte inspiriert, und dies könne er auch dramatisch in der Musik deutlich machen, weil die ihm spontan musikalische Themen nahelegten. So komponierte Strauss mit 84  Jahren sein letztes Werk und eine seiner größten Leistungen: die
Vier letzten Lieder für Sopran und Orchester
, mit einer gedämpften Herbststimmung, die den Tod vorausahnen lässt, einer unaufdringlichen, reichhaltigen Instrumentierung und Zitaten aus eigenen, 58  Jahre zuvor komponierten Werken. Der