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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Normalerweise gebrauchen wir das Wort »Paranoia« in einem abwertenden Sinn für stark übertriebene, unbegründete Ängste. So kamen mir auch die Reaktionen der Neuguineer auf meinen Vorschlag, unter einem toten Baum zu schlafen, anfangs vor, und tatsächlich stürzt ein bestimmter Baum in der Regel nicht gerade in der Nacht um, in der ein Mensch sich entschlossen hat, unter ihm sein Lager aufzuschlagen. Auf lange Sicht jedoch ist die scheinbare Paranoia konstruktiv: Sie ist unverzichtbar, wenn man unter den Bedingungen einer traditionellen Gesellschaft überleben will.
    Unter allem, was ich von den Neuguineern gelernt habe, hat nichts mich so stark beeinflusst wie diese Einstellung. Sie ist in dem Land weit verbreitet, und den Berichten zufolge gibt es sie auch in vielen anderen Gesellschaften auf der ganzen Welt. Wenn es eine Handlung gibt, die in jedem Einzelfall nur mit einem geringen Risiko verbunden ist und die man aber häufig ausführt, lernt man besser, grundsätzlich vorsichtig zu sein, wenn man nicht in jungen Jahren sterben oder dauerhafte Behinderungen davontragen will. Ich habe gelernt, mir eine solche Einstellung auch gegenüber den risikoarmen, aber häufigen Gefahren des amerikanischen Lebens zu eigen zu machen, beispielsweise wenn ich Auto fahre, unter der Dusche stehe, auf eine Leiter steige, um eine Glühlampe zu wechseln, Treppen hinauf- und hinuntergehe oder auf einem eisglatten Bürgersteig laufe. Meine Vorsicht macht manche meiner amerikanischen Freunde verrückt – sie finden so etwas lächerlich. Zu den Menschen im Westen, die meine konstruktive Paranoia am ehesten teilen, gehören drei Freunde, die aufgrund ihrer Lebensweise ebenfalls auf die gesammelten Gefahren sich ständig wiederholender, risikoarmer Ereignisse aufmerksam geworden sind: Der eine ist ein Pilot von Kleinflugzeugen, der zweite war als unbewaffneter Polizist auf den Straßen Londons unterwegs, und der dritte lenkte als Fischereiführer aufblasbare Gummiflöße über Bergbäche. Alle drei haben aus dem Beispiel unvorsichtigerer Freunde gelernt, die nach jahrelanger Berufs- oder sonstiger Tätigkeit ums Leben kamen.  
    Natürlich ist das Leben nicht nur in Neuguinea, sondern auch im Westen mit Gefahren verbunden, selbst wenn man nicht Pilot, Polizist oder Bootsführer ist. Aber zwischen den Gefahren des modernen Lebens im Westen und des traditionellen Lebens gibt es Unterschiede. Unterschiedlich ist natürlich die Art der Gefahr: Bei uns sind es Autos, Terroristen und Herzinfarkt, bei ihnen Löwen, Feinde und umstürzende Bäume. Wichtiger ist aber, dass das Gefahrenniveau insgesamt für uns viel niedriger ist als für sie: Unsere durchschnittliche Lebenserwartung liegt doppelt so hoch wie ihre, das heißt, das durchschnittliche Risiko, dem wir pro Jahr ausgesetzt sind, ist nur ungefähr halb so groß. Der andere wichtige Unterschied besteht darin, dass man die Folgen vieler oder der meisten Unfälle, die wir als Amerikaner erleiden, reparieren kann – in Neuguinea dagegen führen Unfälle viel häufiger zu dauerhaften Schädigungen oder zum Tod. Das einzige Mal, dass ich in den Vereinigten Staaten eine Behinderung erlitt und nicht mehr gehen konnte (weil ich in Boston auf einem vereisten Bürgersteig ausgerutscht war und mir den Fuß gebrochen hatte), humpelte ich zu einem öffentlichen Telefon in der Nähe und rief meinen Vater an, einen Arzt; der holte mich ab und brachte mich ins Krankenhaus. Als ich mir aber im Inneren von Bougainville Island in Papua-Neuguinea das Knie verletzt hatte und nicht mehr gehen konnte, befand ich mich mehr als 30  Kilometer von der Küste entfernt im Landesinneren, und es gab kein Mittel, um mir Hilfe von außen zu beschaffen. Wenn ein Neuguineer sich einen Knochen bricht, kann er ihn nicht von einem Chirurgen einrichten lassen, sondern am Ende bleibt in der Regel ein falsch zusammengewachsener Knochen und damit eine dauerhafte Behinderung zurück.
    In diesem Kapitel möchte ich über drei Vorfälle berichten, die ich in Neuguinea erlebte und die deutlich machen, was konstruktive Paranoia oder ihr Fehlen ist. Zum Zeitpunkt des ersten Erlebnisses war ich noch so unerfahren, dass ich nicht einmal die Anzeichen für eine tödliche Gefahr ganz in der Nähe erkannte: Ich verhielt mich wie ein normaler Mensch aus dem Westen, befand mich aber in einer traditionellen Umwelt, die eine andere Geisteshaltung erforderte. Das nächste Ereignis widerfuhr mir mehr als ein Jahrzehnt später und lehrte

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