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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Komponist Giuseppe Verdi hatte vor, seine musikalische Laufbahn mit den ausladenden, großen Opern
Don Carlos
und
Aida
zu beenden, die er mit 54 und 58  Jahren geschrieben hatte. Dann aber überredete ihn sein Verleger, noch zwei weitere Opern zu komponieren:
Otello
mit 74 und
Falstaff
mit 80  Jahren; beide gelten häufig als seine größten Werke, aber ihr Stil ist viel konzentrierter, sparsamer und subtiler als in seiner früheren Musik.
    Für unsere älteren Menschen neue Lebensumstände zu schaffen, die der sich wandelnden modernen Welt angemessen sind, bleibt für unsere Gesellschaft eine große Herausforderung. Viele Gesellschaften früherer Zeiten zogen größeren Nutzen aus ihren Alten und verschafften ihnen ein besseres Leben als wir. Auch heute können wir sicher bessere Lösungen finden.

Teil IV Gefahr und Reaktion
    Kapitel  7 Konstruktive Paranoia
    Einstellungen zur Gefahr
    Auf einer meiner ersten Reisen nach Neuguinea – ich war noch unerfahren und unvorsichtig – lebte ich einen Monat bei Einheimischen und studierte die Vögel auf einem bewaldeten Berg. Nachdem ich eine Woche lang in einem Lager in geringer Höhe gewohnt und eine Bestandsaufnahme der dortigen Vogelwelt gemacht hatte, wollte ich wissen, welche Vogelarten in größerer Höhe zu Hause waren. Also zogen wir mit unserer Ausrüstung einige hundert Höhenmeter weiter nach oben. Als Lagerplatz und Standquartier für die folgende Woche wählte ich eine großartige Stelle im Hochwald. Sie befand sich auf einem langen, ansteigenden Bergrücken an einer Stelle, wo der Kamm breiter und flacher wurde – um uns herum war sanftes Gelände, auf dem ich ungehindert herumlaufen und die Vögel beobachten konnte. Von einem Bach in der Nähe konnten wir Wasser holen, ohne allzu weit laufen zu müssen. Der Lagerplatz befand sich auf einer Seite des flachen Bergkammes und gab den Blick über einen steilen Felsabsturz in ein tiefes Tal frei, über dem ich die kreisenden Falken, Mauersegler und Papageien beobachten konnte. Für unsere Zelte wählte ich einen Platz neben einem gewaltigen Baumriesen, dessen dicker, gerader Stamm mit Moos bedeckt war. Ich war begeistert über die Aussicht, in einer so schönen Umgebung eine ganze Woche zu verbringen, und bat meine neuguineischen Begleiter, eine ebene Fläche für unsere Zelte zu schaffen.
    Zu meinem Erstaunen wurden sie daraufhin ganz aufgeregt und weigerten sich, an dieser Stelle zu schlafen. Der Baum, so erklärten sie, sei tot, könne auf unser Lager stürzen und uns umbringen. Ja, dass der Baum tot war, hatte ich gesehen, aber ich war überrascht über ihre Überreaktion und wandte ein: »Das ist ein großer Baum. Er sieht noch sehr solide aus. Er ist nicht morsch. Kein Wind könnte ihn umstürzen, und ohnehin ist es hier nicht windig. Bis dieser Baum umfällt, wird es noch Jahre dauern!« Aber meine neuguineischen Freunde hatten dennoch Angst. Statt im Schutz eines Zeltes unter diesem Baum zu schlafen, erklärten sie, sie würden sich im Freien zur Ruhe legen, und zwar so weit entfernt, dass der Baum sie nicht treffen würde, wenn er umstürzte.
    Nach meiner damaligen Einschätzung waren ihre Befürchtungen absurd übertrieben und grenzten an Paranoia. Aber während der Monate, die ich in den Wäldern Neuguineas in Lagern zubrachte, fiel mir auf, dass ich mindestens jeden zweiten Tag irgendwo im Wald einen Baum umstürzen hörte. Ich hörte Geschichten von Neuguineern, die durch umstürzende Bäume ums Leben gekommen waren. Dann überlegte ich, dass diese Menschen nahezu ihr ganzes Leben lang im Wald gelagert hatten – vielleicht 100  Nächte im Jahr oder ungefähr 4000 Nächte im Laufe ihrer durchschnittlichen Lebenszeit von 40  Jahren. Schließlich stellte ich die Berechnung an. Angenommen, man tut etwas, das mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit – beispielsweise nur bei jedem 1000 . Mal – zum Tod eines Menschen führt; wenn man es 100  Mal im Jahr tut, ist man wahrscheinlich in zehn Jahren tot, statt die voraussichtliche Lebenszeit von 40  Jahren zu erreichen. Die Gefahr umstürzender Bäume hält Neuguineer nicht davon ab, in den Wald zu gehen. Aber sie verringern das Risiko, indem sie darauf achten, nicht unter toten Bäumen zu schlafen. Ihre Angst ist also vollkommen begründet. Heute spreche ich deshalb von »konstruktiver Paranoia«.
    Dass ich für eine Eigenschaft, die ich bewundere, diesen widersprüchlichen und scheinbar unangenehmen Begriff wähle, ist volle Absicht.

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