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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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mich endgültig, mir die konstruktive Paranoia zu eigen zu machen: Ich musste anerkennen, dass ich einen Fehler begangen hatte, der mich fast das Leben gekostet hätte, während ein anderer, vorsichtigerer Mann, der zur gleichen Zeit vor der gleichen Alternative stand, meinen Fehler nicht beging und damit nicht das Trauma erlebte, dem Tod nahe zu sein. Bei dem letzten Erlebnis, das ich nochmals zehn Jahre später hatte, war ich mit einem Freund aus Neuguinea zusammen, der mit konstruktiver Paranoia auf ein scheinbar belangloses Detail reagierte, das ich übersehen hatte. Er und ich konnten nie mit Sicherheit feststellen, ob der scheinbar harmlose Stock auf dem Boden, den mein Freund gesehen hatte, tatsächlich auf die Gegenwart feindseliger Menschen hindeutete (wie mein Freund fürchtete), aber ich war beeindruckt von seiner vorsichtigen Aufmerksamkeit für Kleinigkeiten. Im nächsten Kapitel beschäftige ich mich dann mit den Gefahren, denen traditionelle Gesellschaften gegenüberstehen, und mit der Art, wie die Menschen solche Gefahren richtig oder falsch einschätzen und mit ihnen umgehen.
    Nächtlicher Besuch
    Eines Morgens machte ich mich zusammen mit einer Gruppe von 13 neuguineischen Hochlandbewohnern in einem großen Dorf auf den Weg zu einem abgelegenen kleinen Dorf, das mehrere Tagesmärsche entfernt war. Es war die Region in der Höhenlage der Vorgebirge, die im ganzen Land die geringste Bevölkerungsdichte hat. Sie liegt unterhalb der dichtbevölkerten Hochlandtäler, die sich für den intensiven Anbau von Süßkartoffeln und Taro eignen, aber über den Niederungen, in denen Sagopalmen gut gedeihen und Süßwasserfische in großen Mengen vorhanden sind; gleichzeitig war es der Höhenbereich mit der größten Häufigkeit von Gehirnmalaria. Bevor wir uns aufmachten, hatte man mir gesagt, der Weg werde ungefähr drei Tage in Anspruch nehmen und wir würden uns ständig in völlig unbewohnten Wäldern aufhalten. Die ganze Region hat nur eine sehr spärliche Bevölkerung und war erst wenige Jahre zuvor unter die Kontrolle der Regierung gestellt worden. Bis vor kurzem hatte es noch Kriege gegeben, und den Berichten zufolge wurde nach wie vor der Endokannibalismus praktiziert, das heißt, der Verzehr verstorbener Angehöriger. Manche meiner Begleiter waren Einheimische, die meisten stammten aber aus einem anderen Distrikt des Hochlandes und wussten nichts über die Gegend, in der wir uns befanden.
    Am ersten Tag verlief die Wanderung nicht schlecht. Unser Weg führte über die Abhänge eines Berges, gewann allmählich an Höhe und überquerte einen Bergrücken. Anschließend ging es an einem Fluss entlang wieder bergab. Am zweiten Tag jedoch erlebte ich eine der grausigsten Wanderungen meiner gesamten Laufbahn in Neuguinea. Schon als wir gegen 8  Uhr morgens das Lager abbrachen, nieselte es. Einen Weg gab es nicht: Wir wateten an einem tosenden Gebirgsbach entlang und kletterten über riesige, glitschige Felsbrocken auf und ab. Selbst für meine Freunde aus Neuguinea, die an das zerklüftete Gelände im Hochland gewöhnt waren, war die Route ein Albtraum. Gegen 16  Uhr waren wir entlang des Flusses über mehr als 600  Höhenmeter abgestiegen und völlig erschöpft. Wir richteten im Regen unser Lager ein, bauten die Zelte auf, kochten Reis und Dosenfisch zum Abendessen und legten uns dann schlafen. Es regnete immer noch.
    Um zu verstehen, was während dieser Nacht geschah, muss man genau wissen, wie unsere beiden Zelte standen. Meine Freunde aus Neuguinea schliefen unter einer großen Plane, die über eine erhöht angebrachte Mittelstange gespannt und auf beiden Seiten parallel zu dieser Stange am Boden straff gezogen war, so dass sie im Querschnitt wie ein umgekehrtes V aussah. Die Giebel waren offen; man konnte am Vorder- oder Hinterende unter die Plane treten, und die Firststange war so hoch, dass man in der Mitte des Zeltes aufrecht stehen konnte. Ich selbst hatte ein leuchtend grünes »Hundehüttenzelt«, das über einen leichten Metallrahmen gespannt war, über eine große Reißverschlussklappe als Eingang und ein kleines Fenster auf der Rückseite verfügte; beide hatte ich geschlossen. Der Vordereingang meines Zeltes wies in Richtung eines der beiden offenen Enden (der »Vorderfront«) der großen Plane, unter der die Neuguineer schliefen, und war nur wenige Meter von ihm entfernt. Wer unter ihrer Plane hervortrat, stand als Erstes vor dem geschlossenen Eingang meines Zeltes, musste dann seitlich an

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