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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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kleinen Dorf war auf seine Weise so interessant, dass ich den nächtlichen Vorfall mit dem Herumtreiber wieder vergaß. Als es schließlich an der Zeit war, in das große Dorf zurückzukehren, von dem wir gekommen waren, schlugen die Einheimischen unter meinen 13 neuguineischen Freunden vor, einen völlig anderen Weg zu nehmen, auf dem uns das schreckliche Waten im Fluss erspart bleiben würde. Dieser neue Weg erwies sich als guter, trockener Pfad durch den Wald. Er brachte uns in nur zwei Tagen zurück zu dem großen Dorf, während wir für den Hinweg drei quälende Tage gebraucht hatten. Ich habe bis heute keine Ahnung, warum unsere einheimischen Führer sich selbst und uns anderen die Route mit der grausigen Kletterei am Fluss zugemutet hatten.
    Später erzählte ich unsere Abenteuer einem Missionar, der schon seit mehreren Jahren in der Gegend lebte und ebenfalls das abgelegene kleine Dorf besucht hatte. In den folgenden Jahren lernte ich zwei der Einheimischen, die uns auf dieser Wanderung geführt hatten, besser kennen. Von dem Missionar und den beiden Neuguineern erfuhr ich, dass der nächtliche Herumtreiber in der Gegend gut bekannt war – als verrückter, gefährlicher, mächtiger Zauberer. Einmal hatte er gedroht, den Missionar mit Pfeil und Bogen zu töten, und einmal hatte er es in demselben abgelegenen Dorf, in dem auch ich gewesen war, sogar mit einem Speer versucht; während er mit der Waffe ernsthaft zustieß, hatte er gelacht. Es wurde berichtet, er habe zahlreiche Einheimische getötet, darunter auch zwei seiner Ehefrauen und seinen achtjährigen Sohn, nur weil dieser ohne Erlaubnis seines Vaters eine Banane gegessen hatte. Er verhielt sich wie ein echter Paranoider, der die Realität nicht von seiner Phantasie unterscheiden kann. Manchmal wohnte er bei anderen in einem Dorf, oftmals trieb er sich aber auch allein in dem Waldgebiet herum, in dem wir jene Nacht verbracht hatten; dort hatte er Frauen umgebracht, die den Fehler gemacht hatten, sich in die Gegend zu begeben.
    Obwohl der Mann so offenkundig verrückt und gefährlich war, wagten die Einheimischen nicht, ihm in die Quere zu kommen – sie fürchteten ihn als großen Zauberer. Die Geste, die er nachts gemacht hatte, als meine neuguineischen Freunde ihn bemerkten – der ausgestreckte Arm mit nach unten hängender Hand –, ist in dieser Region Neuguineas üblicherweise das Symbol für den Kasuar, den größten Vogel des Landes; von ihm glaubt man, er sei in Wirklichkeit ein mächtiger Magier, der sich in einen Vogel verwandeln kann. Der Kasuar, ein entfernter Verwandter von Straußen und Emus, kann nicht fliegen, wiegt 20 bis 45  Kilo und versetzt die Neuguineer in Angst und Schrecken, weil er mit seinen rasiermesserscharfen Klauen, die er an seinen robusten Beinen trägt, Hunde oder Menschen aufschlitzt, wenn man ihn angreift. Die nächtliche Geste des Zauberers mit dem ausgestreckten Arm und der hängenden Hand soll angeblich einen machtvollen Zauber ausüben; sie ahmt die Form von Hals und Kopf eines Kasuars nach, der sich gerade in seine Angriffshaltung begeben hat.
    Was hatte der Zauberer vorgehabt, als er in jener Nacht in unser Lager kam? Darüber kann man beliebige Vermutungen anstellen, aber vermutlich hatte er keine freundlichen Absichten. Er wusste oder konnte sich denken, dass in dem grünen Hundehüttenzelt ein Europäer lag. Und was die Frage angeht, warum er nicht zum Eingang, sondern zur Rückseite meines Zeltes kam, so vermute ich, dass er entweder von den Neuguineern in ihrem Unterstand gegenüber von meinem Zelt Eingang nicht entdeckt werden wollte, oder dass er von der Konstruktion meines Zeltes verwirrt war und die Rückseite mit der kleinen, geschlossenen Reißverschluss-Fensterklappe mit der Vorderseite und ihrem großen Eingang verwechselt hatte. Hätte ich damals mit Neuguinea schon die Erfahrungen von heute gehabt, ich hätte die konstruktive Paranoia praktiziert und meinen in der Nähe befindlichen Freunden etwas zugeschrien, sobald ich die Schritte hinter meinem Zelt hörte. Mit Sicherheit wäre ich auch am nächsten Tag meinen Begleitern nicht weit vorausgeeilt. Im Rückblick war mein Verhalten dumm gewesen und hatte mich in Gefahr gebracht. Aber damals wusste ich noch nicht genug, um die Warnzeichen zu erkennen und die konstruktive Paranoia anzuwenden.
    Ein Bootsunglück
    Den zweiten Vorfall erlebten mein neuguineischer Freund Franz und ich auf einer Insel vor der Küste von Indonesisch-Neuguinea. Wir

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