Vermächtnis
grünen Campingbeutel und Franz’ Gepäck. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, es sei jetzt am wichtigsten, mein Leben zu retten, und was mit meinem Gepäck geschah, sei im Vergleich dazu völlig unwichtig. Dennoch ertappte ich mich dabei, wie ich in meine üblichen »Was wäre, wenn«-Gedanken verfiel und darüber nachdachte, wie ich die Probleme bewältigen würde, die sich im weiteren Verlauf der Reise ergeben mussten. Wenn ich meinen Pass verlor, so dachte ich, konnte ich immer noch einen neuen bekommen, auch wenn es mit großem Aufwand verbunden war, zur nächsten amerikanischen Botschaft in der 2500 Kilometer entfernten indonesischen Hauptstadt zu reisen. Aber was war, wenn ich mein ganzes Geld und die Reiseschecks verlor? Ich war mir nicht sicher, ob ich eine Kopie mit den Reiseschecknummern getrennt aufbewahrt hatte, und wenn, dann wäre sie ohnehin in meinem treibenden oder schwimmenden Gepäck. Wenn wir gerettet wurden, würde ich mir eine Menge Geld leihen müssen, um in die Hauptstadt Indonesiens zu fliegen und mir dort einen neuen Pass zu besorgen: Aber wie und von wem sollte ich mir Geld leihen? Meine wichtigsten Besitztümer – Pass, Geld und Reiseschecks, aber auch meine gesamten Reiseaufzeichnungen über die Vögel – befanden sich in dem gelben Schultersack, den ich im Kanu auf dem Schoß gehabt hatte. Jetzt konnte ich ihn nicht mehr sehen. Wenn es mir nicht gelang, den Schultersack wiederzubekommen, konnte ich die Listen der Vögel von den wichtigsten Stellen, an denen ich gewesen war, vielleicht aus dem Gedächtnis rekonstruieren. Dann wurde mir klar, wie absurd es war, an Pass, Geld und Vogellisten zu denken, wo ich noch nicht einmal wusste, ob ich in einer Stunde überhaupt noch am Leben sein würde.
Der Schauplatz unseres Kampfes war von paradoxer Schönheit. Über uns wölbte sich ein wolkenlos blauer Himmel, in der Ferne sah man hübsche tropische Inseln, Vögel flogen über uns hinweg. Obwohl ich durch meinen Kampf ums Überleben abgelenkt war, bestimmte ich weiterhin die Vögel: Da waren Rüppellseeschwalben (oder waren es Eilseeschwalben?), möglicherweise eine kleinere Seeschwalben-Spezies und ein Mangrovenreiher. Aber zum ersten Mal in meinem Leben befand ich mich in einer Situation, in der ich nicht wusste, ob ich lebend herauskommen würde. Meine eigenen Gefühle im Angesicht des Todes konnte ich mir nicht eingestehen. Stattdessen dachte ich darüber nach, wie bestürzt meine Mutter und meine Verlobte sein würden, wenn ich ums Leben kam. Ich las mir selbst das Telegramm vor, von dem ich mir vorstellte, dass meine Mutter es erhalten würde: »Zu unserem Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Sohn Jared gestern im Pazifik ertrunken ist.«
Irgendwann sagte ich mir: »Wenn ich das hier überstehe, werde ich im Leben nicht mehr versessen auf Dinge sein, die weniger wichtig sind als das Überleben.« Was würde ich von nun an im Leben anders machen, wenn ich diesen Unfall überstand? Unter anderem kam mir der Gedanke, dass ich gern Kinder hätte – in dieser Frage war ich mir bisher unsicher gewesen. (Später entschloss ich mich tatsächlich, Vater zu werden.) Würde ich noch einmal nach Neuguinea zurückkehren, wenn ich überlebte? Die Gefahren des Landes – Gefahren im Zusammenhang mit Booten wie diesem, mit Abstürzen der kleinen Flugzeuge, auf die ich für meine Reisen angewiesen war, und mit Verletzungen oder Krankheiten, die mich in abgelegenen Gebirgsgegenden außer Gefecht setzen konnten – auf sich zu nehmen, lohnte sich nicht, nur um eine Liste der Vögel an einem noch nicht erforschten Berg zu erstellen. Selbst wenn ich am Leben blieb, war dies vielleicht das Ende meiner Karriere in Neuguinea.
Aber dann erinnerte ich mich daran, dass es Probleme gab, die näherlagen als die Frage, was ich tun würde, wenn ich überlebte. Mir fiel ein, dass einer meiner verschlossenen Koffer, die im Wasser schwammen und am Bug des Kanus festgebunden waren, zwei zusammengefaltete Luftmatratzen und zwei aufblasbare Kissen enthielt, die hervorragende Rettungsflöße abgeben könnten. Ich sagte zu Franz, er solle einen der auf dem Bug hockenden Männer auffordern, den Koffer zu öffnen und die Luftmatratzen und Kissen herauszunehmen. Ich kramte den Kofferschlüssel aus meiner Hosentasche und gab ihn Franz, der ihn an einen der Männer am Bug weiterreichte. Aber aus Gründen, die ich nie erfuhr, öffnete niemand meinen Koffer.
Die anderen sieben Personen, die außer Franz und
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