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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Kanubesatzung in Regress zu nehmen, die den Unfall durch ihren nachlässigen Umgang mit dem Motor verursacht hatte.
    Am nächsten Abend kletterte ich gegen 18  Uhr auf das Dach eines nahe gelegenen Hauses, um noch einmal mitzuerleben, wie schnell das Tageslicht nach Sonnenuntergang geschwunden war. In der Nähe des Äquators wird es viel schneller dunkel als in gemäßigten Breiten, weil die Sonne nicht in einem Winkel hinter dem Horizont versinkt, sondern senkrecht untergeht. Um 18  Uhr  15 , der Uhrzeit, zu der wir am vorherigen Tag gerettet worden waren, stand die Sonne noch knapp über dem Horizont, und ihr Licht wurde schwächer. Um 18  Uhr  30 ging sie unter, und um 18  Uhr  40 war es so dunkel, dass man uns und unser gekentertes Kanu selbst aus wenigen hundert Metern Entfernung nicht mehr hätte ausmachen können. Wir waren nur knapp davongekommen und gerade noch rechtzeitig gerettet worden.
    Als ich in der Dunkelheit vom Dach hinunterstieg, fühlte ich mich hilflos. Immer noch konnte ich nicht begreifen, was diese rücksichtslose Bootsbesatzung mir angetan hatte. Ich hatte wertvolle Ausrüstungsgegenstände verloren und wäre fast ums Leben gekommen. Meine Verlobte, meine Eltern, meine Schwester und meine Freunde hätten mich beinahe verloren. Meine Knie waren wund und aufgeschürft, weil sie mit jeder Welle an dem Dollbord gescheuert hatten, das mir Halt geboten hatte. Und das alles nur, weil einer der drei gewissenlosen jungen Männer, die es eigentlich hätten besser wissen müssen, bei hohem Seegang zu schnell gefahren war, sich nicht um das ins Kanu schwappende Wasser gekümmert hatte, auch dann nicht langsamer gefahren war oder angehalten hatte, als man ihn mehrfach darum gebeten hatte, mit zwei der drei Rettungsringe davon geschwommen war, sich nie entschuldigt hatte und nie das geringste Bedauern gezeigt hatte, dass er uns so viel Angst und Verluste zugefügt hatte und uns beinahe umgebracht hätte. Dieser Mistkerl!
    Während ich noch solche Gedanken wälzte, begegnete mir im Erdgeschoss des Hauses, auf dessen Dach ich geklettert war, um den Sonnenuntergang zu betrachten, ein Mann. Ich fing eine Unterhaltung mit ihm an und erzählte ihm, warum ich auf das Dach gestiegen war und was wir am Tag zuvor erlebt hatten. Darauf erwiderte er, er sei zufällig am Tag zuvor auf derselben Insel gewesen und habe ebenfalls zum Festland fahren wollen. Er habe sich das Kanu mit den großen Motoren angesehen, das wir gemietet hatten, habe die jungen Männer der Besatzung und ihr großspuriges, fröhliches Verhalten gesehen und beobachtet, wie sie die Motoren aufheulen ließen und das Kanu handhabten, bevor sie an die Küste führen, um auf Fahrgäste zu warten. Er hatte schon viel Erfahrung mit Booten und habe sich entschlossen, sein Leben nicht dieser Mannschaft und diesem Boot anzuvertrauen; stattdessen habe er auf ein größeres, langsameres Boot gewartet, um damit zum Festland zu fahren.
    Seine Worte erschütterten mich. Ich war also überhaupt nicht hilflos gewesen! Die großspurigen Mannschaftsmitglieder waren nicht als Einzige dafür verantwortlich, dass ich fast mein Leben verloren hatte. Ich war derjenige, der in ihr Kanu gestiegen war; niemand hatte mich dazu gezwungen. Der Unfall lag letztlich in meiner Verantwortung. Es hätte ohne weiteres in meiner Macht gestanden, zu verhindern, dass er mir widerfuhr. Statt zu fragen, warum die Mannschaft so dumm gewesen war, hätte ich mich besser gefragt, warum ich so dumm war. Der Mann, der sich entschlossen hatte, auf ein größeres Boot zu warten, hatte sich der konstruktiven Paranoia nach Art Neuguineas bedient und es damit vermieden, ein Trauma zu erleiden und beinahe getötet zu werden. Ich selbst hätte ebenfalls die konstruktive Paranoia anwenden sollen, und jetzt nahm ich mir vor, es während meines ganzen weiteren Lebens zu tun.
    Nur ein Stock in der Erde
    Die letzte der drei Episoden, über die ich in diesem Kapitel berichten möchte, ereignete sich viele Jahre nach meinem Kanuunfall, der mich von den Vorzügen der konstruktiven Paranoia überzeugt hatte. Aus dem Tiefland Neuguineas erheben sich viele voneinander getrennte Gebirgszüge. Für Biologen sind sie aus einem besonderen Grund interessant: Für biologische Arten, die nur im Gebirge leben können, stellen sie »Inseln« von Gebirgslebensräumen dar, die von einem »Meer« aus tiefer gelegenen Landstrichen umgeben sind. Die höheren Regionen der meisten isolierten Gebirgsketten sind nicht von

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