Vermächtnis
sind, völlig zahm, weil sie noch nie Menschen gesehen haben und nie gejagt wurden.
Dass ich in der Nähe des Gipfels, auf den ich mich begeben wollte, keine Anzeichen für Nomaden gefunden hatte, bedeutete zweierlei. Erstens hatte ich keine Neuguineer ausfindig gemacht, die einen Besitzanspruch auf den Berg erheben konnten und die ich um Erlaubnis bitten musste. Und zweitens brauche ich für meine Freilandarbeit in Neuguinea immer Einheimische, die ein Lager einrichten und betreiben, Wege roden und mir helfen, Vögel zu finden und zu bestimmen; hier aber standen keine Bewohner der Gegend zur Verfügung. Dieses zweite Problem konnte ich einfach dadurch lösen, dass ich Neuguineer mitbrachte, die ich bereits aus anderen Landesteilen kannte. Die potentiell viel größere Schwierigkeit war die Frage der Genehmigung.
In Neuguinea wird jedes Stückchen Land von irgendeiner Gruppe beansprucht, selbst wenn sie nie dort gewesen ist. Das Land eines anderen ohne Genehmigung zu betreten ist absolut tabu. Wenn man erwischt wird, wie man fremdes Land betritt, kann dies zur Folge haben, dass man ausgeraubt, ermordet und/oder vergewaltigt wird. Mehrmals war ich in unangenehme Situationen geraten, weil ich zwar das nächste Nachbarvolk, das den Anspruch auf die fragliche Region erhob, um Erlaubnis gefragt hatte, dann aber feststellen musste, dass irgendeine andere Gruppe das Gebiet ebenfalls für sich beanspruchte und empört war, weil ich nicht
ihre
Erlaubnis hatte. Zu der Gefahr trug außerdem bei, dass ich in diesem Fall nicht allein kommen würde, sondern zusammen mit mehreren Neuguineern aus anderen Landesteilen. Darüber wären die einheimischen Landeigentümer noch stärker erbost: Im Gegensatz zu mir könnten andere Neuguineer ihnen ihre Frauen und Schweine stehlen oder sich auf dem Land niederlassen.
Was sollte ich tun, wenn ich auf Nomaden traf, nachdem der Hubschrauber mich an der Stelle des Erdrutsches abgesetzt hatte, weggeflogen war und mich für drei Wochen allein gelassen hatte? Der Hubschrauber musste mehrmals hin- und herfliegen und mir Versorgungsgüter und Mitarbeiter bringen; damit machte er meine Anwesenheit bekannt. Wenn es im Umkreis von etlichen Kilometern überhaupt Nomaden gab, würden sie den Hubschrauber hören und sehen; sie würden merken, dass er landete, und uns ausfindig machen. Noch schlimmer wurde die Situation dadurch, dass Nomaden in dieser Region – wenn es welche gab – möglicherweise noch »unkontaktiert« waren, das heißt, sie hatten vielleicht noch nie einen weißen Mann, einen Missionar oder einen Regierungsbeamten gesehen. Der Erstkontakt mit Stammesvölkern, die noch keinen Weißen gesehen haben, ist etwas Erschreckendes. Keine Seite weiß, was die andere will oder tun wird. Durch Gebärdensprache einem zuvor unkontaktierten Volk, dessen Sprache man nicht kennt, friedliche Absichten mitzuteilen ist selbst dann schwierig oder unmöglich, wenn die andere Seite so lange wartet, dass man überhaupt einen Kommunikationsversuch unternehmen kann. Es besteht die Gefahr, dass die anderen nicht warten; sie sind vielleicht erschrocken, wütend oder panisch und schießen sofort mit Pfeil und Bogen. Was sollte ich tun, wenn Nomaden uns entdeckten?
Nach dem Aufklärungsflug reiste ich nach Hause in die Vereinigten Staaten, um für das nächste Jahr eine Hubschrauberexpedition zum Ort des Erdrutsches und zum Gipfel zu planen. In dem dazwischenliegenden Jahr führte ich mir praktisch jeden Abend vor dem Einschlafen die Szenarien vor Augen: Was würde ich tun, wenn ich dort im Wald auf Nomaden traf? In einem Szenario setzte ich mich hin, streckte die Hände aus, um zu zeigen, dass ich keine Waffen hatte und keine Bedrohung darstellte, zwang mich zu einem Lächeln, griff in meinen Tagesrucksack, holte einen Schokoriegel heraus und aß ein Stück davon selbst, um zu zeigen, dass es nicht giftig und essbar war, und bot meinem Gegenüber dann den restlichen Riegel an. Aber – sie könnten sofort wütend werden, oder vielleicht gerieten sie auch in Panik, wenn ich mit meinem Tagesrucksack hantierte, denn ich könnte ja eine Waffe herausholen. In einem anderen Szenario ahmte ich zunächst die Rufe einheimischer Vögel nach, um zu zeigen, dass ich nur die Vogelwelt studieren wollte. Das ist bei Neuguineern oft eine gute Methode, um das Eis zu brechen. Vielleicht hielten sie mich dann aber auch für verrückt, oder sie glaubten, ich wollte an ihnen einen Vogelzauber anwenden. Oder wenn ich mit meinen
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