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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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beeindruckt davon, dass die Bewohner des Landes viel mehr Zeit darauf verwenden, miteinander zu reden, als wir Amerikaner und Europäer. Sie geben ständig Kommentare zu allem ab, was gerade geschieht, was heute Morgen und gestern geschehen ist, wer wann was gegessen hat, wer wann und wo Wasser gelassen hat und wer im Einzelnen was über wen gesagt oder wem angetan hat. Sie füllen nicht nur den Tag mit Reden: Auch nachts wachen sie von Zeit zu Zeit auf und setzen ihre Gespräche fort. Für jemanden aus dem Westen wie mich, der es gewohnt ist, dass der Nachtschlaf nicht durch Gespräche unterbrochen wird, ist es unter solchen Umständen schwierig, in einer Hütte zusammen mit Neuguineern eine angenehme Nachtruhe zu finden. Ähnliche Bemerkungen machten andere Besucher aus dem Westen auch über die Redseligkeit der !Kung, der afrikanischen Pygmäen und vieler weiterer traditioneller Völker.
    Von unzähligen Beispielen ist mir eines besonders in Erinnerung geblieben. Auf meiner zweiten Reise nach Neuguinea befand ich mich eines Morgens mit zwei Männern aus dem Hochland in einem Zelt im Lager, während andere Männer aus dem Lager im Wald unterwegs waren. Die beiden gehörten zum Stamm der Fore und unterhielten sich in ihrer Sprache. Ich hatte die Freude gehabt, Fore zu lernen, und da das Gespräch von vielen Wiederholungen geprägt war und von einem Thema handelte, zu dem ich den erforderlichen Wortschatz bereits beherrschte, konnte ich dem, was sie sagten, zum größten Teil folgen. Sie sprachen über Süßkartoffeln, ein Grundnahrungsmittel der Hochlandbewohner, das auf Fore »isa-awe« heißt. Einer der Männer warf einen Blick auf den großen Haufen Süßkartoffeln in einer Ecke des Zeltes, machte ein trauriges Gesicht und sagte zu dem anderen: »Isa-awekampai« (»Es sind keine Süßkartoffeln da«). Dann zählten sie, wie viele isa-awe in Wirklichkeit auf dem Haufen lagen; dazu bedienten sie sich des Zahlensystems der Fore, in dem Gegenstände mit den zehn Fingern der beiden Hände abgebildet werden, dann mit den zehn Zehen und schließlich mit einer Reihe von Punkten entlang der Arme. Jeder der beiden Männer erklärte dem anderen, wie viele isa-awe er selbst heute Morgen gegessen hatte. Dann verglichen sie ihre Erinnerungen daran, wie viele isa-awe der »rote Mann« am Morgen verzehrt hatte (das war ich: Die Fore bezeichnen Europäer nicht als »Weiße«, sondern als »tetekine«, was wörtlich »roter Mann« bedeutet). Der Mann, der als Erster gesprochen hatte, erklärte jetzt, er habe Hunger auf isa-awe, obwohl er erst vor einer Stunde gefrühstückt hatte. Im weiteren Verlauf des Gespräches schätzten die beiden, wie lange der Haufen isa-awe noch reichen würde und wann der rote Mann (wiederum ich) neue isa-awe kaufen müsste. An diesem Gespräch war nichts Ungewöhnliches: Es ist mir nur deshalb in Erinnerung geblieben, weil es mir das Fore-Wort »isa-awe« unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt hat und weil mir zu jener Zeit auffiel, wie lange die Männer ein Gespräch weiterführen konnten, das nur aus Varianten eines einzigen Themas, der isa-awe, bestand.
    Wir sind leicht geneigt, solche Gespräche als »Geschwätz« abzutun. Aber Geschwätz erfüllt für uns bestimmte Funktionen, und für die Neuguineer ebenso. Eine solche Funktion hat in Neuguinea damit zu tun, dass traditionelle Völker nicht über Möglichkeiten der passiven Unterhaltung verfügen, der wir übermäßig viel Zeit widmen, wie Fernsehen, Radio, Filme, Bücher, Videospiele und das Internet. In Neuguinea sind vielmehr Gespräche die wichtigste Form der Unterhaltung. Eine andere Funktion besteht darin, dass Gespräche in Neuguinea der Entwicklung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen dienen, die für die dortigen Menschen mindestens ebenso wichtig sind wie für uns im Westen.
    Darüber hinaus hilft der ständige Gesprächsstrom den Neuguineern nach meiner Überzeugung auch, mit dem Leben in ihrer gefährlichen Umwelt zurechtzukommen. Alles wird diskutiert: kleinste Einzelheiten von Ereignissen, was hat sich seit gestern verändert, was könnte als Nächstes geschehen, wer hat was getan und warum? Wir beziehen unsere Informationen über die Welt um uns herum zum größten Teil aus den Medien; traditionelle Neuguineer erhalten sie ausschließlich aufgrund ihrer eigenen Beobachtungen und voneinander. Das Leben ist für sie gefährlicher als für uns. Indem sie ständig reden und sich so viele Informationen wie möglich

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