Vermächtnis
als übertrieben abgetan wie in einem früheren Stadium meiner Karriere in Neuguinea die Reaktionen der Neuguineer auf den toten Baum, unter dem ich gezeltet hatte. Mittlerweile war ich so lange im Land gewesen, dass ich sein Verhalten verstand. Besser achtet man tausendmal auf Stöcke, die von selbst in einer unnatürlich aussehenden Position heruntergefallen sind, als dass man einmal den tödlichen Fehler begeht, einen Stock zu übersehen, der tatsächlich von seltsamen Menschen aufgestellt wurde. Guminis konstruktive Paranoia war die angemessene Reaktion eines erfahrenen, vorsichtigen Neuguineers.
Risiken eingehen
Die grundlegende Vorsicht, die ich, wie schon erwähnt, als konstruktive Paranoia bezeichne, ist mir bei Neuguineern häufig aufgefallen; ich möchte aber nicht den falschen Eindruck erwecken, sie seien deswegen gelähmt und würden zögern, etwas zu tun. Zunächst einmal gibt es vorsichtige und unvorsichtige Neuguineer, genau wie es vorsichtige und unvorsichtige Amerikaner gibt. Aber auch die vorsichtigen Menschen sind durchaus in der Lage, Risiken abzuwägen und zu handeln. Von manchen Dingen wissen sie, dass sie riskant sind, aber sie tun sie dennoch immer wieder und mit der gebotenen Vorsicht. Der Grund: Solche Dinge zu tun ist unbedingt notwendig, um Nahrung zu beschaffen und im Leben Erfolg zu haben, oder aber man legt darauf besonderen Wert. In diesem Zusammenhang fällt mir ein Ausspruch ein, der dem großen Eishockeyspieler Wayne Gretzky zugeschrieben wird; er sagte einmal über die Risiken bei schwierigen Schüssen, die vielleicht das Tor verfehlen: »Schüsse, die du nicht abgibst, gehen zu 100 Prozent nicht rein.«
Meine Freunde aus Neuguinea würden Gretzkys Ausspruch verstehen und noch zwei Fußnoten anfügen. Erstens wäre die Analogie zum traditionellen Leben noch enger, wenn man für einen Fehlschuss tatsächlich bestraft würde – auch dann würde man noch schießen, aber man wäre vorsichtiger. Und zweitens kann ein Eishockeyspieler nicht ewig auf die optimale Schussgelegenheit warten, weil das Spiel auf eine Stunde begrenzt ist. Eine ähnliche zeitliche Begrenzung gibt es auch im traditionellen Leben: Wenn man nicht Risiken auf sich nimmt, um Wasser zu finden, ist man innerhalb weniger Tage verdurstet, wenn man keine Risiken auf sich nimmt, um Nahrung zu beschaffen, ist man nach wenigen Tagen verhungert, und in weniger als einem Jahrhundert stirbt man, ganz gleich, was man tut. In Wirklichkeit ist die durchschnittliche Lebenserwartung bei traditionellen Völkern beträchtlich kürzer als in der Ersten Welt; die Ursache sind unkontrollierbare Faktoren wie Krankheiten, Dürre und feindliche Angriffe. Ganz gleich, wie vorsichtig jemand in einer traditionellen Gesellschaft ist, er wird wahrscheinlich ohnehin vor dem 55 . Lebensjahr sterben, und deshalb nehmen die Menschen dort unter Umständen größere Risiken in Kauf als in der Gesellschaft der Ersten Welt mit ihrer durchschnittlichen Lebensdauer von 80 Jahren – genau wie Wayne Gretzky mehr Schüsse versucht hätte, wenn ein Eishockeyspiel nicht eine Stunde, sondern nur 20 Minuten dauern würde. Ich möchte drei Beispiele für kalkulierte Risiken nennen, die traditionelle Völker eingehen, während sie bei uns blankes Entsetzen auslösen:
Bei den !Kung versuchen Jäger, die mit nichts anderem bewaffnet sind als mit kleinen Bogen und vergifteten Pfeilen, durch das Schwenken von Stöcken und Geschrei ganze Gruppen von Löwen oder Hyänen von toten Tieren zu vertreiben. Wenn es einem Jäger gelingt, eine Antilope zu treffen, tötet der kleine Pfeil nicht dadurch, dass er einschlägt: Das Beutetier läuft vielmehr davon, die Jäger verfolgen es, und viele Stunden oder einen Tag später, wenn die Beute durch das langsam wirkende Gift zusammengebrochen ist, finden Löwen oder Hyänen den Kadaver meist als Erste. Jäger, die nicht bereit sind, diese Raubtiere von den Kadavern zu vertreiben, werden unter Garantie verhungern. Kaum etwas anderes kommt mir so selbstmörderisch vor wie der Gedanke, auf eine Gruppe fressender Löwen zuzugehen und dabei nur einen Stock zu schwenken, um sie einzuschüchtern. Aber nichts anderes tun die Jäger der !Kung über Jahrzehnte hinweg jedes Jahr einige Dutzend Mal. Sie versuchen, die Gefahr möglichst gering zu halten, indem sie satt gefressene Löwen mit sichtbar aufgeblähtem Bauch herausfordern, die sich wahrscheinlich ohne weiteres zurückziehen werden; sie legen sich aber nicht mit
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