Vermächtnis
hungrigen oder entkräfteten Löwen an, die den Kadaver offensichtlich gerade erst entdeckt haben und wahrscheinlich die Stellung halten werden.
In der Region der Fore im westlichen Hochland von Neuguinea ziehen Frauen bei der Eheschließung aus dem Dorf, in dem sie geboren wurden, in das Dorf ihres Mannes. Kehren verheiratete Frauen später in das Dorf ihrer Geburt zurück, um ihre Eltern oder andere Blutsverwandte zu besuchen, reisen sie entweder mit dem Ehemann oder allein. Zu Zeiten der traditionellen, chronischen Kriegsführung ging eine alleinreisende Frau das Risiko ein, beim Durchqueren feindlichen Territoriums vergewaltigt oder getötet zu werden. Die Frauen versuchten, diese Gefahr möglichst gering zu halten, indem sie Schutz bei anderen Verwandten suchten, die in dem durchquerten Gebiet wohnten. Gefahren und Schutz vorherzusehen war aber schwierig. Unter Umständen wurde eine Frau zur Vergeltung für einen Mord angegriffen, der sich eine Generation zuvor ereignet hatte; oder ihre Beschützer waren denen, die Rache üben wollten, zahlenmäßig unterlegen, oder sie erkannten an, dass die Forderung nach Rache gerechtfertigt war.
Der Anthropologe Ronald Berndt berichtete beispielsweise über eine junge Frau namens Jumu aus dem Dorf Ofafina, die nach Jasuvi ging und dort einen Mann heiratete. Als Jumu später mit ihrem Kind nach Ofafina zurückkehren wollte, um ihre Eltern und Brüder zu besuchen, musste sie den Distrikt der Ora durchqueren, in dem kurz zuvor eine Frau namens Inusa von Männern aus Ofafina getötet worden war. Deshalb erteilten Jumus Schwäger in Jasuvi ihr den Rat, Schutz bei Asiwa zu suchen, einem männlichen Verwandten bei den Ora, der zufällig auch der Neffe der toten Inusa war. Aber nachdem Jumu Asima in seinem Garten gefunden hatte, wurde sie leider von einigen Ora-Männern aufgespürt; diese überlisteten Asiwa und übten Druck auf ihn aus, bis er zuließ, dass einer der Männer Jumu in Gegenwart ihres »Beschützers« vergewaltigte; anschließend töteten sie Jumu und ihr Kind. Asiwa hatte seine Bemühungen zu Jumus Schutz offenbar nur halbherzig betrieben, denn in seinen Augen war der Mord an Jumu und ihrem Kind eine gerechte Rache für die Tötung von Inusa. Was die Frage angeht, warum Jumu den fatalen Fehler beging, sich dem Schutz von Asiwa anzuvertrauen, so meint Berndt: »Kämpfe, Rache und Gegenrache sind so verbreitet, dass die Menschen sich an diesen Zustand gewöhnt haben …« Mit anderen Worten: Jumu wollte nicht für immer und ewig die Hoffnung aufgeben, ihre Eltern wiederzusehen, nahm dafür die damit verbundenen Risiken in Kauf und versuchte, sie so gering wie möglich zu halten.
Mein letztes Beispiel für das heikle Gleichgewicht zwischen konstruktiver Paranoia und wissentlich eingegangenen Risiken handelt von den Jägern bei den Inuit. Eine wichtige Methode, mit der diese Arktisbewohner im Winter die Robben jagen, besteht darin, manchmal stundenlang auf einer Meereisscholle an einem der Atemlöcher zu stehen in der Hoffnung, dass eine Robbe an dem Loch auftaucht, um schnell Atem zu holen, wobei man sie mit einer Harpune erlegen kann. Dieses Verfahren birgt die Gefahr, dass die Eisscholle sich löst und aufs offene Meer hinaustreibt, so dass der Jäger auf dem Eis gestrandet ist und wahrscheinlich ums Leben kommt, wenn das Eis zerbricht und er ertrinkt oder wenn er erfriert oder verhungert. Viel ungefährlicher wäre es, an Land zu bleiben und sich nicht diesem Risiko auszusetzen. Das wiederum würde aber wahrscheinlich zum Tod durch Verhungern führen, denn die Jagd an Land bietet nicht annähernd so viel Ertrag wie das Töten von Robben an den Atemlöchern. Die Inuit-Jäger bemühen sich zwar um die Auswahl von Eisschollen, die wahrscheinlich nicht abbrechen werden, aber wie das Eis sich verhält, kann selbst der vorsichtigste Jäger nicht mit Sicherheit voraussagen, und auch andere Gefahren des Lebens in der Arktis führen dazu, dass die traditionellen Jäger bei den Inuit nur eine kurze Lebenserwartung haben. Wie gesagt: Würde ein Hockeyspiel 20 Minuten dauern, würde man auch dann risikoreiche Schüsse versuchen, wenn jeder Fehlschluss bestraft wird.
Risiken und Redseligkeit
Zum Schluss möchte ich Vermutungen über einen möglichen Zusammenhang zwischen zwei Aspekten des traditionellen Lebens anstellen: seinen Risiken und dem, was ich bei traditionellen Völkern als Redseligkeit erlebt habe. Seit meiner ersten Reise nach Neuguinea war ich immer
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