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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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daran gewöhnt, in den Sumpfwäldern von Neuguinea Ausschau nach Wildschweinen und Krokodilen zu halten.
    Diese beiden ganz ähnlichen Geschichten machen mehrere Aussagen deutlich. In jeder Gesellschaft haben die Menschen es mit Gefahren zu tun, die aber im Einzelnen unterschiedlich sind. Unsere Wahrnehmung für unbekannte und bekannte Risiken ist häufig unrealistisch. Konners Freund von den !Kung und Sabine Kuegler hatten in einem recht: Autos sind tatsächlich im Westen die größte Gefahr für das Leben. Aber als amerikanische Collegestudenten und Wählerinnen in einer Umfrage die Gefahren des Lebens einordnen sollten, hielten beide Gruppen die Kernenergie für gefährlicher als Autos, obwohl durch Atomenergie (selbst wenn man die Toten der beiden Atombomben, die am Ende des Zweiten Weltkrieges abgeworfen wurden, einbezieht) in Wirklichkeit nur ein winziger Bruchteil der Zahl an Menschen ums Leben gekommen sind, die durch Autos getötet wurden. Amerikanische Collegestudenten halten auch Pestizide für äußerst gefährlich (in ihrer Einschätzung stehen sie gleich hinter Schusswaffen und dem Rauchen), und chirurgische Operationen halten sie für relativ ungefährlich; in Wirklichkeit sind Operationen gefährlicher als Pestizide.
    Man könnte auch hinzufügen, dass die traditionelle Lebensweise insgesamt gefährlicher ist als die westliche, was seinen Ausdruck in einer viel kürzeren Lebenserwartung findet. Dieser Unterschied ist allerdings vorwiegend jüngeren Datums. Bevor leistungsfähige Staatsregierungen vor rund 400  Jahren erstmals die Auswirkungen des Hungers milderten und insbesondere bevor öffentliches Gesundheitswesen und später Antibiotika während der letzten knapp 200  Jahre eine wirksame Bekämpfung der Infektionskrankheiten ermöglichten, war die Lebenserwartung in den Staatsgesellschaften Europas und Amerikas nicht höher als in traditionellen Gesellschaften.
    Welches sind eigentlich die Hauptgefahren der traditionellen Lebensweise? Wie wir noch genauer erfahren werden, sind Löwen und Krokodile nur ein Teil der Antwort. Was den Umgang mit Gefahren angeht, so reagieren wir modernen Menschen manchmal rational: Wir ergreifen Maßnahmen, um die Gefahr so gering wie möglich zu halten. In anderen Fällen reagieren wir aber auch »irrational« und ineffizient, zum Beispiel durch Leugnen der Gefahr, oder auch mit Gebeten und anderen religiösen Praktiken. Wie gehen traditionelle Völker mit Gefahren um? Ich möchte hier vier Gruppen von Gefahren erörtern, die mir für traditionelle Völker die wichtigsten zu sein scheinen: ökologische Gefahren, Gewalt zwischen Menschen, Infektions- und Parasitenkrankheiten und Hunger. Die beiden ersten bereiten auch in den modernen westlichen Gesellschaften große Probleme, für die dritte und insbesondere für die vierte gilt das weniger (auch wenn sie in anderen Teilen der modernen Welt nach wie vor von Bedeutung sind). Anschließend möchte ich kurz erwähnen, in welcher Hinsicht unsere Risikoabschätzung verzerrt ist, so dass wir auf Pestizide zu stark und auf chirurgische Eingriffe zu schwach reagieren.
    Unfälle
    Wenn wir uns ausmalen, welchen Gefahren traditionelle Gesellschaften gegenüberstehen, so fallen uns wahrscheinlich als Erstes Löwen und andere Risiken aus der Umwelt ein. In Wirklichkeit stehen Gefahren aus der Umwelt unter den Todesursachen in den meisten traditionellen Gesellschaften erst an dritter Stelle nach Krankheiten und der Gewalt zwischen Menschen. Gefahren aus der Umwelt haben aber auf das Verhalten der Menschen größere Auswirkungen als Krankheiten, weil zwischen Ursache und Wirkung ein viel direkterer Zusammenhang besteht, der auch leichter wahrzunehmen und zu verstehen ist.
    Tab. 3 führt für sieben traditionelle Völker, für die zusammenfassende Darstellungen zur Verfügung stehen, die wichtigsten Ursachen unfallbedingter Todesfälle oder Verletzungen auf. Alle Gruppen leben in den Tropen oder in ihrer Nähe und praktizieren zumindest in gewissem Umfang die Jagd und das Sammeln; zwei davon (die Hochlandbewohner aus Neuguinea und die Kaulong) beziehen jedoch den größten Teil ihrer Kalorien aus der Landwirtschaft. Wie man leicht erkennt, stehen unterschiedliche traditionelle Völker auch unterschiedlichen Gefahren gegenüber, die im Zusammenhang mit den verschiedenartigen Umweltbedingungen stehen. Zu ertrinken oder auf einer Eisscholle aufs offene Meer getrieben zu werden stellt beispielsweise für die Inuit an der Küste der

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