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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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beschaffen, bemühen sich die Neuguineer darum, in ihrer Welt einen Sinn zu finden und sich so vorzubereiten, dass sie die Gefahren ihres Lebens besser beherrschen.
    Die gleiche Funktion der Risikovermeidung erfüllen Gespräche natürlich auch bei uns. Auch wir sprechen miteinander, aber wir haben weniger Bedarf für Gespräche, weil wir weniger Gefahren gegenüberstehen und über mehr Informationsquellen verfügen. In diesem Zusammenhang fällt mir eine amerikanische Freundin ein – ich möchte sie einmal Sara nennen –, die ich immer bewundert habe, weil sie sich selbst darum bemühte, mit einer gefährlichen Umwelt zurechtzukommen. Sara war alleinerziehende Mutter, arbeitete auf einer Vollzeitstelle, lebte von einem bescheidenen Gehalt und hatte Mühe, die Bedürfnisse ihres kleinen Sohnes und ihre eigenen zu finanzieren. Als kluge, gesellige Frau war sie daran interessiert, den richtigen Mann kennenzulernen, der für sie zum Partner, für ihren Sohn zum Vater und für beide zum Beschützer werden und auch wirtschaftlich zu ihrem Leben beitragen konnte.
    Die Welt der amerikanischen Männer ist für eine alleinerziehende Mutter voller Gefahren, die nur schwer genau einzuschätzen sind. Sara hatte eine beträchtliche Zahl von Männern kennengelernt, die sich als unehrlich oder gewalttätig erwiesen hatten. Das hielt sie aber nicht davon ab, weiterhin Verabredungen zu treffen. Aber wie die !Kung-Jäger, die nicht aufgeben, wenn sie Löwen an einem Kadaver finden, aber ihre ganze Erfahrung einsetzen, um möglichst schnell die von diesen Löwen ausgehende Gefahr zu beurteilen, so hatte auch Sara gelernt, Männer schnell einzuschätzen und auf kleine Gefahrenzeichen zu achten. Sie unterhielt sich regelmäßig lange mit Freundinnen, die sich in ähnlichen Situationen befanden, um Erfahrungen mit Männern, anderen Situationen und Lebensrisiken auszutauschen und sich gegenseitig zu helfen, in ihren Beobachtungen einen Sinn zu finden.
    Wayne Gretzky hätte verstanden, warum Sara trotz vieler Fehlschüsse weiterhin die Männer erforschte. (Zu meiner Freude kann ich berichten, dass Sara schließlich eine glückliche zweite Ehe mit einem netten Mann einging, der alleinerziehender Vater war, als sie ihn kennenlernte.) Und meine Freunde aus Neuguinea würden Saras konstruktive Paranoia verstehen, und sie wüssten auch, warum sie so viel Zeit darauf verwendet, mit ihren Freundinnen die Einzelheiten ihres Alltagslebens zu erörtern.

Kapitel  8 Löwen und andere Gefahren
    Gefahren der traditionellen Lebensweise
    Der Anthropologe Melvin Konner lebte zwei Jahre bei den Jägern und Sammlern der !Kung in einer abgelegenen Region der Kalahariwüste in Botswana, weit weg von Straßen und Ortschaften. Der nächstgelegene Ort war klein, und es gab dort nur so wenige Autos, dass man auf der Hauptstraße durchschnittlich nur in Abständen von ungefähr einer Minute eines zu sehen bekam. Aber als Konner seinen Freund !Khoma vom Volk der !Kung mit in den Ort nahm, hatte dieser ungeheure Angst angesichts der Vorstellung, die Straße überqueren zu müssen, und das, obwohl in beiden Richtungen kein Auto zu sehen war. Dabei gehörte es in der Kalahari zur Lebensweise dieses Mannes, Löwen und Hyänen von den Kadavern gerissener Tiere zu vertreiben.
    Über eine ähnliche Reaktion berichtete Sabine Kuegler, die Tochter eines deutschen Missionarsehepaares, die als Kind mit ihren Eltern beim Stamm der Fayu in den Sumpfwäldern von Indonesisch-Neuguinea gelebt hatte – auch dort gab es weder Straßen noch Autos oder Ortschaften. Mit 17  Jahren verließ sie schließlich Neuguinea und ging auf ein Internat in der Schweiz. »Autos kannte ich natürlich, aber hier gab es so unglaublich viele, und sie rasten so unglaublich schnell! … Jedes Mal, wenn wir ohne Ampel eine Straße überqueren mussten, fing ich an zu schwitzen. Ich konnte die Geschwindigkeit nicht einschätzen, hatte panische Angst, angefahren zu werden. Autos rasten von beiden Seiten an uns vorbei, und als es eine kleine Lücke gab, rannten all meine Freundinnen über die Straße. Ich aber blieb wie versteinert stehen. Fünf Minuten später stand ich immer noch am selben Platz. Die Angst war einfach zu groß. Ich lief einen riesigen Umweg, bis ich endlich eine Ampel fand. Von diesem Tag an wussten alle, dass man Straßenüberquerungen mit mir weit im Voraus planen muss. Und bis heute habe ich noch Angst vor dem brausenden Verkehr der Städte.« Dafür hatte sich Sabine Kuegler aber

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