Vermächtnis
mir, es müsse für den Stock eine natürliche Erklärung geben. Vielleicht war er tatsächlich durch Zufall mit so viel Kraft senkrecht heruntergefallen, dass er sich in den Boden gebohrt hatte, oder vielleicht hatten wir auch die abgerissenen Wurzeln übersehen, als wir ihn herausgezogen hatten. Andererseits war Gumini ein erfahrener Waldläufer; er gehörte zu den Besten, die ich in Neuguinea kennengelernt hatte, und dass er Spuren falsch deutete, war unwahrscheinlich.
Wir konnten nichts anderes tun, als vorsichtig zu sein, aufmerksam auf weitere Spuren von Menschen zu achten und nichts zu tun, womit wir uns für Nomaden, die vielleicht in der Nähe lauerten, verraten hätten. Man musste damit rechnen, dass die vier lautstarken Hubschrauberflüge, die zur Einrichtung des Lagers notwendig gewesen waren, allen Nomaden im Umkreis von mehreren Dutzend Kilometern einen Hinweis gegeben hatten. Wenn es sie gab, würden wir es schon bald wissen. Zur Vorsicht riefen wir einander nichts mehr aus großer Entfernung zu. Ich achtete darauf, besonders leise zu sein, wenn ich unterhalb des Lagers, wo die Nomaden sich mit größerer Wahrscheinlichkeit aufhielten, Vögel beobachtete. Damit der Rauch unseres Lagerfeuers nicht schon von weither auf uns aufmerksam machte, zündeten wir ein großes Feuer zur Zubereitung der Hauptmahlzeit erst nach Einbruch der Dunkelheit an. Nachdem wir schließlich festgestellt hatten, dass auch einige große Warane um unser Lager schlichen, bat ich meine neuguineischen Freunde, Pfeil und Bogen zur Verteidigung herzustellen. Sie taten es, allerdings nur halbherzig – vielleicht lag es daran, dass frisch geschnittenes, grünes Holz sich nicht besonders gut für Pfeil und Bogen eignet, vielleicht aber auch daran, dass vier grüne Bogen und Pfeile in den Händen von nur vier Neuguineern nicht viel nützen würden, wenn sich hier wirklich eine Horde verärgerter Nomaden herumtrieb.
Im Laufe der nächsten Tage tauchten keine weiteren rätselhaften abgebrochenen Stöcke auf, und auch sonst gab es keine verdächtigen Spuren von Menschen. Stattdessen sahen wir tagsüber Baumkängurus, die keine Angst hatten und bei unserem Anblick nicht wegliefen. Baumkängurus sind in Neuguinea die größten einheimischen Säugetiere und die wichtigste Beute der ansässigen Jäger; in bewohnten Regionen werden sie deshalb schnell dezimiert. Die überlebenden Tiere lernen, nur nachts aktiv zu sein; außerdem sind sie sehr scheu und flüchten, wenn man sie sieht. Ebenso trafen wir auf zutrauliche Kasuare, die größten flugunfähigen Vögel Neuguineas, die ebenfalls für die Jäger eine wichtige Beute darstellen und deshalb in bewohnten Gebieten sehr selten und scheu sind. Auch die großen Tauben und Papageien in der Region hatten keine Angst. Alles deutete darauf hin, dass die Tiere in dieser Gegend es noch nie mit jagenden Menschen oder Besuchern zu tun hatten.
Als der Hubschrauber uns wie vorgesehen 19 Tage nach unserer Ankunft wieder abholte, war das Rätsel des abgebrochenen Stockes immer noch nicht gelöst. Andere potentielle Spuren von Menschen hatten wir nicht gesehen. Rückblickend betrachtet, halte ich es für unwahrscheinlich, dass Nomaden aus dem viele Kilometer entfernten Tiefland Hunderte von Höhenmetern bergauf gestiegen waren, einen Garten angelegt hatten, ein oder zwei Jahre später zurückgekommen waren, zufällig einige Tage vor unserer Ankunft einen Stock in die Erde gesteckt hatten, dessen Blätter noch grün waren, und ansonsten keine Spuren hinterlassen hatten. Wie der Stock dorthin gekommen war, kann ich zwar nicht erklären, ich habe aber die Vermutung, dass Guminis konstruktive Paranoia in diesem Fall nicht gerechtfertigt war.
Wie er aber zu dieser Haltung gelangt war, kann ich mit Sicherheit verstehen. Seine Region war erst kurz zuvor der staatlichen Kontrolle unterstellt worden. Zuvor hatten ständig traditionelle Kämpfe stattgefunden. Paia, der zehn Jahre älter war als Gumini, war noch mit der Herstellung von Steinwerkzeugen aufgewachsen. In Guminis und Paias Gesellschaft hatten Menschen, die im Wald nicht ungeheuer aufmerksam auf Spuren von Fremden achteten, nicht lange zu leben. Misstrauisch gegenüber Stöcken zu sein, für die man nicht ohne weiteres eine natürliche Erklärung findet, sie eine Stunde lang zu untersuchen und darüber zu diskutieren und dann aufmerksam auf andere Stöcke zu achten, kann nicht schaden. Vor meinem Unfall mit dem Kanu hätte ich Guminis Reaktion ebenso
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