Vermächtnis

wurde mir plötzlich klar, dass die Durchfallattacken jeden Tag ungefähr eine halbe Stunde nach dem Zusammentreffen mit meinem freundlichen Bekannten und dem Verzehr seiner Kekse begannen: Wenn er mich um 10  Uhr morgens aufgesucht hatte, setzte der Anfall um 10  Uhr  30 ein, hatte er mich um 14  Uhr  30 angetroffen, kam der Anfall um 15  Uhr. Vom nächsten Tag an dankte ich ihm für die Kekse, entsorgte sie unauffällig, nachdem er wieder gegangen war, und hatte keine weiteren Anfälle mehr. Das Problem lag nicht in den Keksen selbst, von denen wir im Lager einen Vorrat in der Zellophan-Originalverpackung aufbewahrten, sondern darin, wie mein Freund mit ihnen umging – wenn ich selbst die Packung öffnete, wurde ich von dem Gebäck nicht krank. Die Ursache der Anfälle musste also in Darm-Krankheitserregern liegen, die mein Freund von seinen Fingern auf die Kekse übertragen hatte.
    Was die vorherrschenden Typen von Infektionskrankheiten angeht, bestehen auffällige Unterschiede zwischen kleinen Gruppen nomadisierender Jäger und Sammler oder Bauerngesellschaften von Familiengröße auf der einen Seite, und großen Bevölkerungsgruppen moderner oder neuerer Gesellschaften westlicher Prägung sowie traditionell bevölkerungsreichen Bauerngesellschaften der Alten Welt auf der anderen. Charakteristisch für Gesellschaften von Jägern und Sammlern sind Malaria und andere von Insekten übertragene Fieberkrankheiten, Ruhr und andere Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes, Erkrankungen der Atemwege und Hautinfektionen. Dagegen fehlen bei Jägern und Sammlern – jedenfalls dann, wenn sie nicht in jüngster Zeit von Besuchern aus dem Westen angesteckt wurden – die gefürchteten Infektionskrankheiten der sesshaften Bevölkerungsgruppen: Diphtherie, Grippe, Masern, Mumps, Keuchhusten, Röteln, Pocken und Typhus. Im Gegensatz zu den Infektionskrankheiten der Jäger und Sammler, die entweder chronisch vorhanden sind oder aufflammen und wieder verschwinden, entwickeln sich diese Krankheiten in dichten Bevölkerungsgruppen zu akuten Epidemien: In einer Region erkranken in kurzer Zeit viele Menschen und werden dann entweder schnell wieder gesund oder sterben, und anschließend verschwindet die Krankheit in der Gegend für ein Jahr oder länger.
    Warum solche Krankheitsepidemien nur in großen Bevölkerungsgruppen entstehen und erhalten bleiben können, wurde in den letzten Jahrzehnten durch die epidemiologische und mikrobiologische Forschung geklärt. Es liegt daran, dass die Krankheiten leicht übertragbar sind, einen akuten Verlauf nehmen, den überlebenden Opfern lebenslange Immunität verschaffen und auf die Spezies Mensch beschränkt sind. Die sehr wirksame Übertragung verläuft von einer erkrankten Person auf gesunde Menschen in ihrer Umgebung; den Erreger gibt der Patient aus eiternden Hautpusteln ab oder aber durch Husten und Niesen über die Luft, oder über Exkremente und das Trinkwasser. Gesunde infizieren sich, wenn sie einen Patienten oder einen Gegenstand, der mit dem Patienten in Kontakt gekommen ist, berühren, wenn sie die vom Patienten ausgeatmete Luft aufnehmen oder wenn sie verunreinigtes Wasser trinken. »Akuter Verlauf« bedeutet, dass der Patient sich innerhalb weniger Wochen nach der Ansteckung entweder erholt oder stirbt. Durch das Zusammenwirken von einfacher Übertragung und akutem Verlauf sind alle Angehörigen einer lokalen Bevölkerungsgruppe innerhalb kürzester Zeit mit der Krankheit in Berührung gekommen und jetzt entweder tot oder genesen. Wegen der lebenslangen Immunität der Überlebenden gibt es dann in der Bevölkerungsgruppe niemanden, der sich die Krankheit noch zuziehen könnte, bis in einem der nächsten Jahre eine Reihe noch nicht infizierter Babys geboren ist. Und da die Krankheit auf Menschen beschränkt ist, gibt es in Tieren oder im Boden kein Reservoir, in dem die Krankheit erhalten bleiben könnte: Sie stirbt lokal aus und kann erst dann wieder aufflackern, wenn sich eine von einer weit entfernten Quelle ausgehende Infektion ausbreitet. Insgesamt haben alle diese Merkmale zur Folge, dass Infektionskrankheiten nur große Bevölkerungsgruppen befallen können, die so viele Mitglieder haben, dass die Krankheit in der Bevölkerung ständig bestehen bleibt, weil sie sich von einer Region zur anderen weiterbewegt; lokal stirbt sie zwar aus, aber in einem weiter entfernten Teil der Population überlebt sie. Für die Masern liegt die mindestens notwendige Populationsgröße