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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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verschuldet, weil es etwas übersehen, ein Vergehen gegen die Natur begangen oder ein Tabu verletzt hat. Die Kaulong führen zum Beispiel Atemwegserkrankungen bei Männern auf die Verunreinigung durch Frauen zurück; danach entstehen sie, wenn ein Mann den gefährlichen Fehler begangen hat, in Kontakt mit einem Gegenstand zu kommen, der von einer menstruierenden oder gebärenden Frau verunreinigt wurde, oder wenn ein Mann unter einem umgestürzten Baum oder einer Brücke hindurchgegangen ist oder aus einem Fluss getrunken hat (weil eine Frau über den Baumstamm, über die Brücke oder durch den Fluss gegangen sein könnte). Wenn wir im Westen auf solche Theorien der Kaulong über Atemwegserkrankungen bei Männern herabblicken, sollten wir daran denken, wie häufig Krebskranken auch bei uns eine Art moralische Mitschuld angelastet wird, obwohl die eigentliche Krankheitsursache für uns ebenso rätselhaft ist wie die Ursache von Atemwegserkrankungen für die Kaulong.
    Hunger
    Im Februar 1913 stieg der britische Entdecker A. F. R. Wollaston gut gelaunt durch die Gebirgswälder Neuguineas bergab. Es war ihm gelungen, am höchsten Berg des Landes die Schneegrenze zu erreichen. Plötzlich stieß er zu seinem Entsetzen auf zwei erst seit kurzem verstorbene Menschen. Während der nächsten beiden Tage, die er später als die schrecklichsten seines Lebens bezeichnete, entdeckte er mehr als 30 weitere Leichen von Bergbewohnern, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Sie lagen einzeln oder in Gruppen von bis zu fünf Toten in groben Unterständen entlang des Weges. Zu einer Gruppe gehörte neben einer toten Frau und zwei toten Kindern ein noch lebendes kleines Mädchen von ungefähr drei Jahren; Wollaston nahm die Kleine mit ins Lager und fütterte sie mit Milch, aber sie starb innerhalb weniger Stunden. Auch eine andere Gruppe – ein Mann, eine Frau und zwei Kinder – kam ins Lager, aber alle mit Ausnahme eines Kindes starben. Die ganze Gruppe war bereits chronisch mangelernährt; sie hatte ihre Vorräte an Süßkartoffeln und Schweinen aufgebraucht und im Wald mit Ausnahme einiger Palmenherzen keine wilden Lebensmittel gefunden, und die Schwächeren starben offensichtlich an Hunger.
    Im Vergleich zu Unfällen, Gewalt und Krankheiten, die als Todesursachen in traditionellen Gesellschaften häufig erkannt und erwähnt werden, findet der Hungertod, dessen Zeuge Wollaston wurde, viel weniger Beachtung. Wenn er sich einstellt, handelt es sich meist um ein Massensterben: In Kleingesellschaften werden Nahrungsmittel geteilt, so dass entweder niemand oder viele Menschen auf einmal hungern. Als Mitursache des Todes jedoch wird der Hunger stark unterschätzt. Wenn Menschen stark mangelernährt sind, sterben sie in den meisten Fällen an etwas anderem, bevor sie ausschließlich aufgrund des Hungers ums Leben kommen. Ihre körperliche Widerstandsfähigkeit sinkt, sie werden anfälliger für Krankheiten, und dann wird als Todesursache eine Krankheit genannt, von der eine gesunde Person sich erholt hätte. Mit der körperlichen Schwächung werden sie auch anfälliger für Unfälle wie den Sturz von einem Baum oder das Ertrinken, und auch Feinden fällt es leichter, sie zu töten. Dass Lebensmittel für Kleingesellschaften ein so beherrschendes Thema sind und dass sie komplizierte Maßnahmen ergreifen, um sich ihre Lebensmittelversorgung zu sichern – Näheres werde ich auf den nächsten Seiten erläutern –, zeugt von ihrer allgegenwärtigen Furcht vor dem Hunger als einer der wichtigsten Gefahren des traditionellen Lebens.
    Darüber hinaus hat Nahrungsmittelknappheit nicht nur die Form des Hungers in dem Sinn, dass die Kalorienzufuhr nicht ausreicht, sondern sie verbindet sich auch mit einer Knappheit an bestimmten Vitaminen (was Krankheiten wie Beriberi, Pellagra, perniziöse Anämie, Rachitis oder Skorbut zur Folge hat), bestimmten Spurenelementen (mit Kropf und Eisenmangelanämie als Folgen) und Proteinen (was zu Kawshiorkor führt). Solche Mangelkrankheiten kommen bei Bauern häufiger vor als bei Jägern und Sammlern, denn diese ernähren sich in der Regel vielseitiger. Wie der Kalorienmangel, so tragen auch spezifische Mangelkrankheiten häufig dazu bei, dass Unfälle, Gewalt oder Infektionskrankheiten als Todesursache angeführt werden, bevor die Mangelkrankheit als solche zum Tode führt.
    Hunger ist ein Risiko, auf das die wohlhabenden Bürger der Ersten Welt keinen Gedanken verwenden, weil wir Tag für Tag, von

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