Vermächtnis
Verwandtschaft der Sprachen erkennen, so zwischen Französisch, Spanisch und den anderen romanischen Sprachen, die vom Lateinischen abstammen, oder zwischen Englisch, Deutsch und anderen germanischen Sprachen, die Nachkommen eines Proto-Germanischen sind. Nach 10 000 Jahren schließlich sind die Unterschiede so groß, dass die meisten Linguisten die Sprachen verschiedenen Sprachfamilien zuordnen würden, zwischen denen keine erkennbare Verwandtschaft besteht.
Zwischen Sprachen entwickeln sich also Unterschiede, weil verschiedene Menschengruppen im Laufe der Zeit unabhängig voneinander unterschiedliche Wörter und eine unterschiedliche Aussprache entwickeln. Es bleibt aber die Frage, warum solche Sprachen nach der Auseinanderentwicklung nicht wieder verschmelzen, wenn die einstmals getrennten Völker sich ausbreiten und an den Sprachgrenzen wieder miteinander in Kontakt treten. An der heutigen Grenze zwischen Polen und Deutschland zum Beispiel liegen polnische Dörfer ganz in der Nähe deutscher Dörfer, und doch sprachen die Dorfbewohner die lokale Variante des Deutschen oder Polnischen, aber keinen deutsch-polnischen Mischmasch. Warum ist das so?
Der vielleicht wichtigste Nachteil eines solchen Sprachenmischmaschs hat mit einer Grundfunktion der Sprache zu tun: Sobald man zu jemand anderem spricht, dient die Sprache als sofort erkennbares Kennzeichen der Gruppenzugehörigkeit. Im Krieg die Uniform des Feindes anzuziehen, ist für einen Spion viel einfacher als die Sprache und Aussprache des anderen überzeugend nachzuahmen. Wer
deine
Sprache spricht, gehört zu
deinen
Leuten. Sie erkennen in dir einen Landsmann, unterstützen dich oder begegnen dir zumindest nicht sofort mit Misstrauen; wer dagegen eine andere Sprache spricht, ist dazu prädestiniert, als potentiell gefährlicher Fremder betrachtet zu werden. Diese sofortige Unterscheidung zwischen Freunden und Fremden funktioniert auch heute noch: Achten Sie (meine amerikanischen Leser) nur einmal darauf, wie Sie reagieren, wenn Sie das nächste Mal in Usbekistan sind und zu Ihrer Erleichterung hören, wie hinter Ihnen jemand Englisch mit amerikanischem Akzent spricht. Noch wichtiger war die Unterscheidung zwischen Freunden und Fremden in der Vergangenheit (Kapitel 1 ) – damals war sie oft eine Frage von Leben und Tod. Es ist wichtig, dass man die Sprache mindestens einer Gemeinschaft spricht, damit man wenigstens in einer Gruppe als »einer von uns« angesehen wird. Spricht man dagegen an einer Sprachgrenze einen Mischmasch, wird man vielleicht von beiden Gruppen verstanden, aber für keine von beiden ist man »einer von uns«, und man kann nicht damit rechnen, in einer der Gruppen freundlich aufgenommen und beschützt zu werden. Das könnte der Grund sein, warum die Sprachgemeinschaften der Welt Tausende von Sprachen bewahrt haben und warum nicht die ganze Welt eine einzige Sprache spricht oder eine Dialektkette bildet.
Geographie der Sprachenvielfalt
Sprachen sind auf der Welt ungleichmäßig verteilt: Ungefähr 10 Prozent der Landflächen beherbergen mehr als die Hälfte aller Sprachen. Am unteren Ende im Spektrum der Sprachenvielfalt stehen die drei größten Staaten der Welt: Russland, Kanada und China haben jeweils eine Fläche von mehreren Millionen Quadratkilometern, aber in Russland gibt es nur rund 100 , in Kanada 80 und in China 300 einheimische Sprachen. Das obere Ende bilden Neuguinea mit 786 000 Quadratkilometern und 1000 einheimischen Sprachen sowie Vanuatu mit 12 190 Quadratkilometern und 110 Sprachen. Demnach wird in Russland durchschnittlich auf etwa 170 000 , in Kanada auf 127 000 und in China auf 31 000 Quadratkilometern eine Sprache gesprochen, in Neuguinea aber auf 777 und in Vanuatu auf 109 Quadratkilometern. Warum unterliegt die Sprachenvielfalt derart gewaltigen geographischen Schwankungen?
Zur Antwort tragen nach den Erkenntnissen der Sprachforschung offenbar ökologische, sozioökonomische und historische Faktoren bei. Die Sprachenvielfalt – das heißt die Zahl der einheimischen Sprachen je 1000 Quadratkilometer – steht im Zusammenhang mit zahlreichen potentiellen Erklärungsfaktoren, aber diese Faktoren hängen ihrerseits auch untereinander zusammen. Deshalb muss man mit statistischen Verfahren wie der multiplen Regressionsanalyse herauszufinden versuchen, welche Faktoren als primäre Ursache zu einer hohen oder niedrigen Sprachenvielfalt beitragen und welche anderen Faktoren nur scheinbar eine Wirkung haben,
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