Vermächtnis
gerade erwähnte, mit wachsender politischer Komplexität einhergehende Abnahme der Sprachenvielfalt. Über die Regionen der Welt sind mehrfach »Sprachen-Dampfwalzen« hinweggerollt: Eine Gruppe, die sich aufgrund von Bevölkerungszahl, Nahrungsgrundlage oder Technologie eines Vorteils erfreute, nutzte diesen Vorteil aus, um sich auf Kosten benachbarter Gruppen auszubreiten; dabei zwang sie der Region ihre Sprache auf und verdrängte die früheren lokalen Sprachen, indem sie deren Sprecher vertrieb, tötete oder zur Sprache der Invasoren bekehrte. Die bekanntesten derartigen Umwälzungen stehen im Zusammenhang mit der Expansion mächtiger Staaten auf dem Gebiet staatenloser Völker. Beispiele aus jüngerer Zeit sind die europäische Expansion auf Kosten der einheimischen Sprachen in Amerika, die Eroberung Australiens durch Großbritannien mit der Verdrängung der Aborigines-Sprachen, und die russische Expansion in das Gebiet jenseits des Ural bis zum Pazifik mit der Verdrängung der sibirischen Sprachen. Auch in der entfernteren Vergangenheit gab es historisch belegte Sprachen-Dampfwalzen. Die Expansion des Römischen Reiches im Mittelmeerraum und großen Teilen Westeuropas führte zur Auslöschung des Etruskischen, der kontinentalen keltischen Sprachen und viele anderer. Auf ganz ähnliche Weise verbreiteten sich mit dem Inkareich und seinen Vorläufern auch die Sprachen Quechua und Aymara über die Andenregion.
Unter sprachwissenschaftlichen Laien weniger bekannt sind die Dampfwalzen, die durch die Expansion von Bauern, die noch keine Schrift hatten, über die Gebiete der Jäger und Sammler hinwegrollten. Für diese Vorgänge gibt es keine historischen Belege, sondern man muss sie aus linguistischen und archäologischen Befunden ableiten. Gut untersucht wurde die Expansion der Bantu, die in Afrika südlich der Sahara die früheren Sprachen der Jäger und Sammler zum größten Teil verdrängten, und die Ausbreitung der austronesischen Bauern, die sich in der südostasiatischen Inselwelt breitmachten. In anderen Fällen überrollten Jäger und Sammler andere Jäger und Sammler, wobei verbesserte Technologie die Triebkraft war; ein Beispiel ist die Expansion der Inuit, die sich vor 1000 Jahren mit Hilfe technologischer Neuentwicklungen wie Hundeschlitten und Kajaks über die kanadische Arktis nach Osten ausbreiteten.
Diese unterschiedlich gearteten historischen Expansionsprozesse hatten zur Folge, dass manche Regionen der Erde, in denen es nur wenige geographische Barrieren gibt, immer wieder von sprachlichen Dampfwalzen überrollt wurden. Die unmittelbare Folge ist eine sehr geringe Sprachenvielfalt, denn eine eingedrungene Sprache fegt die zuvor vorhandene linguistische Vielfalt hinweg. Im Laufe der Zeit entwickelt sich die eingedrungene Sprache zu lokalen Dialekten weiter, und noch später werden daraus getrennte Sprachen, die aber immer noch eng verwandt sind. Ein frühes Stadium dieses Prozessen wird an der Expansion der Inuit vor 1000 Jahren deutlich: Alle Inuitvölker von Alaska bis nach Grönland verstehen sich gegenseitig und sprechen lokale Dialekte einer einzigen Sprache. Die Expansion von Römern und Bantu vor 2000 Jahren repräsentiert ein geringfügig späteres Stadium: Die verschiedenen romanischen Sprachen (darunter Französisch, Spanisch und Rumänisch) sind sich sehr ähnlich, gegenseitig aber nicht mehr verständlich, und das Gleiche gilt auch für die vielen hundert eng verwandten Bantusprachen. In einem noch späteren Stadium befindet sich die Entwicklung, die vor rund 6000 Jahren mit der austronesischen Expansion begann: Sie hat bis heute 1000 Sprachen hervorgebracht, die sich auf acht Zweige verteilen, sich aber immer noch so stark ähneln, dass an ihrer Verwandtschaft kein Zweifel besteht.
Im Gegensatz zu solchen Regionen, die leicht überrollt werden und von Johanna Nichols als
language spreadzones
(»Sprachausbreitungszonen«) bezeichnet werden, stehen die von ihr so genannten
residual zones
(»Beharrungszonen«) oder Rückzugsgebiete: Gebirge und sonstige Regionen, die für Staaten und andere Außenstehende nur schwer einzunehmen sind, so dass Sprachen über lange Zeit erhalten bleiben und sich differenzieren können. In solchen Regionen überleben einzigartige Sprachgruppen. Berühmte Beispiele sind der Kaukasus mit drei einzigartigen Sprachfamilien und einigen in jüngerer Zeit eingewanderten Sprachen, die zu drei anderen, weit verbreiteten Sprachfamilien gehören;
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