Vermächtnis
Spekulation: Einige Jahrhunderte vor dem Aufschwung der modernen Medizin könnten die Europäer genau wie heute die Bewohner von Nauru eine Diabetes-Epidemie erlebt haben, die durch die neue, zuverlässige, ausreichende Lebensmittelversorgung ausgelöst wurde und die meisten Diabetes-anfälligen Träger des sparsamen Genotyps ausmerzte. Die Folge war die heutige niedrige Diabeteshäufigkeit in Europa. Die Träger der sparsamen Gene wurden in Europa vermutlich über Jahrhunderte hinweg dezimiert: Viele Kinder zuckerkranker Mütter starben schon bei der Geburt, zuckerkranke Erwachsene starben in jüngeren Jahren als andere, und sowohl die Kinder als auch die Enkel dieser Diabetiker starben durch Vernachlässigung oder geringe materielle Unterstützung. Allerdings dürfte es zwischen dieser postulierten, verborgenen Epidemie im Europa früherer Zeiten und den gut dokumentierten heutigen Epidemien auf Nauru und in vielen anderen Regionen große Unterschiede gegeben haben. Während der modernen Epidemien setzte die reichliche, ständig verlässliche Lebensmittelversorgung sehr plötzlich ein – auf Nauru innerhalb eines Jahrzehnts, unter den jemenitischen Juden sogar innerhalb eines Monats. Die Folge war der plötzliche Anstieg der Krankheitshäufigkeit auf 20 bis 50 Prozent, der sich unmittelbar unter den Augen der modernen Diabetesforscher abspielte. Dieser Spitzenwert wird vermutlich schnell wieder zurückgehen (was man auf Nauru bereits beobachten kann), weil Personen mit einem sparsamen Genotyp innerhalb von nur ein bis zwei Generationen durch natürliche Selektion beseitigt werden. In Europa dagegen wuchs der Lebensmittelüberfluss allmählich im Laufe mehrerer Jahrhunderte. Die Folge war demnach ein unmerklich langsamer Anstieg der Diabeteshäufigkeit zwischen dem 15 . und dem 18 . Jahrhundert, lange bevor irgendein Diabetesforscher es hätte bemerken können. Letztlich erleben die Pima, die Bewohner von Nauru, die Wanigela, die gebildeten indischen Stadtbewohner und die Bürger reicher arabischer Ölstaaten in gedrängter Form innerhalb einer Generation den Wandel der Lebensweise und den daraus folgenden Anstieg und Rückgang der Diabeteshäufigkeit, die sich in Europa über viele Jahrhunderte hinzogen.
Ein mögliches Opfer dieser heimlichen Diabetes-Epidemie, die ich für Europa postuliere, war der Komponist Johann Sebastian Bach (geboren 1685 , gestorben 1750 ). Bachs Krankengeschichte ist zwar so schlecht dokumentiert, dass man über die Ursache seines Todes keine genauen Aussagen machen kann, sein rundes Gesicht und die dicken Hände in dem einzigen authentischen Porträt (Abb. 28 ) , die Berichte über das nachlassende Sehvermögen im höheren Alter und der offenkundige Verfall seiner Handschrift, der möglicherweise eine Sekundärfolge der zunehmenden Erblindung und/oder der Nervenschäden waren, sind mit der Diagnose einer Zuckerkrankheit zu vereinbaren. Die Krankheit kam in Deutschland zu Bachs Zeiten mit Sicherheit vor und wurde damals als »Honigsüße Harnruhr« bezeichnet.
Die Zukunft der nicht übertragbaren Krankheiten
In diesem Kapitel habe ich nur zwei der vielen nicht übertragbaren Krankheiten ( NCD s) beschrieben, die sich mit der westlich geprägte Lebensweise verbinden und deren Häufigkeit derzeit explosionsartig zunimmt: den Bluthochdruck mit seinen Folgen und den Diabetes des Typs 2 . Andere wichtige NCD s konnte ich hier aus Platzgründen nicht genauer erörtern, aber S. Boyd Eaton, Melvin Konner und Marjorie Shostak haben sich genauer mit ihnen beschäftigt: koronare Herzkrankheit und andere Herzerkrankungen, Arteriosklerose, periphere Gefäßkrankheiten, viele Nierenkrankheiten, Gicht sowie zahlreiche Krebsformen, darunter Lungen-, Magen-, Brust- und Prostatakrebs. Auch bin ich nur auf wenige Risikofaktoren der westlich geprägten Lebensweise eingegangen, insbesondere auf Salz, Zucker, hohe Kalorienaufnahme, Übergewicht und Bewegungsarmut. Weitere wichtige Risikofaktoren, die ich nur kurz erwähnt habe, sind Rauchen, hoher Alkoholkonsum, Cholesterin, Triglyceride, gesättigte Fettsäuren und Trans-Fettsäuren.
Wie wir erfahren haben, sind NCD s in westlich geprägten Gesellschaften, zu denen viele Leser dieses Buches gehören, mit großem Abstand die führenden Todesursachen. Außerdem ist es auch nicht so, dass wir ein wunderschönes, sorgenfreies, gesundes Leben führen, bis wir im Alter von 78 bis 81 Jahren (der durchschnittlichen Lebenserwartung in westlich
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