Vermächtnis
Maßstäben der Gemeinschaft zwar verurteilt, es war aber Sache des Eigentümers, sich um Schadenersatz in Form von Schweinen oder anderen Gegenleistungen zu bemühen. Der Umfang des Schadenersatzes wurde nicht am Wert des gestohlenen Gegenstandes gemessen, sondern hing davon ab, welche Kräfteverhältnisse zwischen Täter und Opfer herrschen, welchen Groll sie schon zuvor gegeneinander gehegt hatten, welche Ansicht die Verwandten des Diebes von ihm hatten und ob sie ihn voraussichtlich unterstützen würden.
In Konflikte wurden bei den Fore über die unmittelbar Beteiligten auch andere Personen hineingezogen. Gab es Zwietracht zwischen Eheleuten, mischten sich die Angehörigen beider Partner ein, wobei sie allerdings auch selbst unter Umständen Interessenkonflikte erlebten. Ein Mann, der zum gleichen Clan gehörte wie der Ehemann, unterstützte zwar vielleicht seinen Angehörigen gegen dessen Frau, es war aber auch möglich, dass er stattdessen die Frau gegen ihren Ehemann unterstützte, weil er zu dem Brautpreis beigetragen hatte, mit dem die Frau für den Clan gesichert wurde. In der Regel bestand also der Druck, Konflikte innerhalb einer Großfamilie schnell beizulegen, indem man Schadenersatz zahlte, Geschenke austauschte oder ein Festessen veranstalte, um die Wiederherstellung der freundschaftlichen Beziehungen zu besiegeln. Konflikte zwischen zwei Großfamilien aus demselben Distrikt konnten ebenfalls durch Zahlung von Schadenersatz beigelegt werden, aber (wie wir in den beiden nächsten Kapiteln genauer erfahren werden) bestand hier eine größere Gefahr als innerhalb desselben Clans, dass jemand zu Gewalt griff, weil andere Menschen weniger Druck im Sinne einer friedlichen Beilegung ausübten.
Die letzte nichtstaatliche Gesellschaft, die ich hier in den Vergleich einbeziehen möchte, sind die Nuer im Sudan (Abb. 7 ) . Als der Anthropologe E. E. Evans-Pritchard sie in den 1930 er Jahren studierte, bestand ihr Volk aus ungefähr 200 000 Menschen, die sich in viele Stämme gliederten. Sie sind damit unter den hier beschriebenen Gesellschaften die größte, in der auch offensichtlich formalisierte Gewaltakte am häufigsten waren und die außerdem als Einzige einen formell anerkannten politischen Führer hatte, den sogenannten Leopardenfell-Häuptling. Nuer fühlen sich schnell beleidigt, und die Männer werden dafür bewundert, wenn sie zur Beilegung von Konflikten innerhalb eines Dorfes mit Knüppeln gegeneinander kämpfen, bis entweder ein Mann schwer verletzt ist oder (häufiger) bis andere Dorfbewohner eingreifen und die Streithähne trennen.
Das schlimmste Verbrechen unter den Nuer, die Tötung eines anderen, löst die Blutrache aus: Wenn Y von X getötet wird, sind die Verwandten von Y verpflichtet, aus Rache X oder einen von dessen engen Angehörigen zu töten. Eine Tötung kennzeichnet also nicht nur einen Konflikt zwischen Täter und Opfer, sondern auch zwischen allen engen Angehörigen von beiden und möglicherweise ihrem ganzen Umfeld. Unmittelbar nach einem Tötungsdelikt sucht der Täter, der genau weiß, dass er jetzt zur Zielscheibe der Rache wird, Zuflucht im Haus des Häuptlings. Dort ist er vor Angriffen sicher, aber seine Feinde liegen auf der Lauer und erstechen ihn, sobald er den Fehler macht, das Haus des Häuptlings zu verlassen. Dieser wartet einige Wochen, bis sich die Gemüter beruhigt haben (ganz ähnlich wie die kürzere Verzögerung in dem geschilderten Fall von Billys Tod in Neuguinea), und eröffnet dann die Schadenersatzverhandlungen zwischen den Angehörigen von Täter und Opfer. Die übliche Zahlung bei einem Tötungsdelikt liegt bei 40 oder 50 Kühen.
Entscheidend ist dabei jedoch die Erkenntnis, dass der Häuptling bei den Nuer nicht über die Autorität verfügt, zu herrschen, über die Berechtigung eines Konflikts zu entscheiden oder seine Beilegung anzuordnen. Er ist nur ein Vermittler, dessen man sich auch nur dann bedient, wenn beide Parteien zu einem Abkommen gelangen und den vorherigen Stand der Dinge wiederherstellen wollen. Der Häuptling fordert eine Seite zu einem Vorschlag auf, der von der anderen in der Regel abgelehnt wird. Schließlich drängt er eine Partei, den Vorschlag der anderen anzunehmen, was diese mit offen zur Schau gestelltem Widerwillen tut, wobei sie darauf beharrt, sie tue es nur dem Häuptling zuliebe. Mit anderen Worten: Der Häuptling bietet einen Weg, auf dem man sein Gesicht wahren und einen Kompromiss, der zum Wohle der
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