Vermächtnis
Gemeinschaft notwendig ist, finden kann. Blutrache kann in einem Dorf nicht toleriert werden und lässt sich auch zwischen Nachbardörfern kaum über längere Zeit aufrechterhalten. Je größer aber die Entfernung zwischen den beteiligten Großfamilien ist, desto schwieriger wird es, die Fehde beizulegen (weil der Wunsch, wieder normale Beziehungen herzustellen, weniger stark ist); entsprechend größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der anfängliche Mord in weiterer Gewalt eskaliert.
Der Leopardenfell-Häuptling der Nuer wird also möglicherweise als Vermittler bei kleineren Konflikten herangezogen, beispielsweise wenn jemand ein Rind gestohlen oder einen anderen verprügelt hat, oder wenn die Familie der Braut nach einer Scheidung nicht die Kühe zurückgibt, die sie bei der Hochzeit als Brautpreis erhalten hat. In den Meinungsverschiedenheiten bei den Nuer geht es aber nicht um eine klare Entscheidung zwischen Recht und Unrecht. Handelt es sich beispielsweise um einen Rinderdiebstahl, streitet der Dieb die Tat nicht ab, sondern rechtfertigt sie frech damit, er habe eine Rechnung begleichen müssen: einen früheren Rinderdiebstahl durch den gegenwärtigen Eigentümer oder dessen Angehörige, oder irgendeine Verpflichtung (beispielsweise als Schadenersatz für Ehebruch, für eine Verwundung, für sexuelle Beziehungen zu einem unverheirateten Mädchen, für eine Scheidung, für die angeblich nicht ausreichende Zahlung oder ausgebliebene Rückzahlung eines Brautpreises oder für den Tod einer Frau bei der Entbindung, für den der Ehemann verantwortlich gemacht wird). Während es also beim Schadenersatz nicht um Recht oder Unrecht geht, wird es dem Angegriffenen auch nicht gelingen, einen Schadenersatz zu erhalten, wenn er nicht auch bereit wäre, Gewalt anzuwenden, und wenn man nicht fürchtet, dass er und seine Angehörigen zu Gewalt greifen, wenn der Schadenersatz ausbleibt. Wie bei den Fore, so ist Selbsthilfe auch bei den Nuer die Grundlage der Konfliktlösung.
Im Vergleich zu den anderen vier hier beschriebenen nichtstaatlichen Gesellschaften lässt die Rolle des Häuptlings bei den Nuer an einen ersten Schritt in Richtung einer Rechtsprechung erkennen. Man sollte aber noch einmal betonen, dass die Merkmale einer staatlichen Rechtsprechung zur Konfliktlösung bei den Nuer noch fehlen, und das Gleiche gilt auch für die meisten anderen nichtstaatlichen Gesellschaften mit Ausnahme starker Häuptlingstümer. Bei den Nuer hat der Häuptling in dem Konflikt keine Entscheidungsgewalt, sondern er ist nur ein Vermittler, ein Mittel, um das Gesicht zu wahren und eine Abkühlungsperiode zu ermöglichen, wenn beide Parteien es wünschen; eine ganz ähnliche Rolle spielte auch Yaghean in dem Konflikt zwischen Billys Familie und Malos Arbeitgeber. Der Nuer-Häuptling verfügt nicht über ein Gewaltmonopol, ja er hat noch nicht einmal ein Mittel, um Gewalt überhaupt anzuwenden; diese Möglichkeit steht ausschließlich den Konfliktparteien offen. Die Konfliktlösung verfolgt bei den Nuer nicht das Ziel, über Recht oder Unrecht zu entscheiden, sondern sie soll in einer Gesellschaft, in der jeder jeden kennt oder zumindest über jeden anderen Bescheid weiß, normale Beziehungen wiederherstellen, weil es die Stabilität der Gesellschaft gefährden würde, wenn böses Blut zwischen zwei ihrer Mitglieder über längere Zeit bestehen bleibt. Diese Beschränkungen, denen die Stammeshäuptlinge der Nuer unterliegen, sind in bevölkerungsreichen Häuptlingstümern (beispielsweise auf den großen Inseln Polynesiens und in den großen Gruppen der amerikanischen Ureinwohner) nicht mehr vorhanden: Hier haben die Häuptlinge echte politische und juristische Macht, verfügen über ein Gewaltmonopol und stellen potentielle Zwischenstufen auf dem Weg zu einer Staatsregierung dar.
Staatsgewalt
Vergleichen wir nun einmal diese nichtstaatlichen Konfliktlösungsmechanismen mit denen der Staaten. Genau wie die verschiedenen hier beschriebenen nichtstaatlichen Systeme, die manche Merkmale gemeinsam haben und sich in anderer Hinsicht unterscheiden, so besitzen auch die staatlichen Systeme bei aller Vielfalt andere gemeinsame Aspekte. Meine Bemerkungen zur staatlich gelenkten Konfliktlösung basieren im Wesentlichen auf dem System in den Vereinigten Staaten, das mir am vertrautesten ist, ich werde aber auch auf einige Unterschiede in anderen staatlichen Systemen hinweisen.
Sowohl bei der staatlichen als auch bei der nichtstaatlichen
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