Vermächtnis
Konfliktlösung gibt es zwei Vorgehensweisen: einerseits Mechanismen, durch die Einigkeit zwischen den Parteien hergestellt wird, und andererseits (nachdem man es mit diesen Mechanismen versucht hat und gescheitert ist) Methoden, mit denen man zu einer umstrittenen Lösung kommt. In nichtstaatlichen Gesellschaften besteht die Kehrseite des Schadenersatzprozesses, mit dem man zu einer Einigung gelangt, in eskalierender Gewalt (Kapitel 3 und 4 ). In nichtstaatlichen Gesellschaften gibt es keine formalisierten, zentralstaatlichen Mechanismen, die verhindern könnten, dass unzufriedene Personen ihre Ziele unter Anwendung von Gewalt durchsetzen. Da meist ein Gewaltakt den nächsten provoziert, eskaliert die Gewalt, und in einer nichtstaatlichen Gesellschaft entsteht dadurch eine ernsthafte Bedrohung für den Frieden. Deshalb gehört es zu den wichtigsten Anliegen einer effizienten Staatsgewalt, dass sie die öffentliche Sicherheit garantiert oder zumindest verbessert, indem sie verhindert, dass die Bürger des Staates Gewalt gegeneinander ausüben. Um den inneren Frieden und die Sicherheit aufrechtzuerhalten, beansprucht die zentrale politische Autorität des Staates nahezu ein Monopol auf das Recht, gewaltsam Vergeltung zu üben: Nur dem Staat und seiner Polizei ist es (bei ausreichendem Anlass) erlaubt, zur Vergeltung gewaltsame Maßnahmen gegen die eigenen Staatsbürger zu ergreifen. Die Staaten gestatten ihren Bürgern aber auch, Gewalt zur Selbstverteidigung anzuwenden, beispielsweise wenn ein Bürger angegriffen wird oder berechtigten Grund zu der Annahme hat, dass ihm selbst oder seinem Eigentum eine unmittelbare ernste Gefahr droht.
Die Bürger werden auf zweierlei Weise davon abgehalten, selbst zu Gewalt zu greifen: einerseits durch die Angst vor der überlegenen Macht des Staates, und andererseits indem man sie überzeugt, dass private Gewalt unnötig ist, weil der Staat ein Justizsystem eingerichtet hat, das (zumindest in der Theorie) als unparteiisch gilt; dieses System garantiert den Bürgern die eigene Sicherheit und die ihres Eigentums, und wer die Sicherheit eines anderen schädigt, wird als Übeltäter gebrandmarkt und bestraft. Wenn der Staat solche Aufgaben effizient erfüllt, empfinden die geschädigten Bürger weniger oder überhaupt keine Notwendigkeit, nach Art der Neuguineer oder Nuer Selbstjustiz zu üben. (In schwächeren Staaten wie dem heutigen Papua-Neuguinea fehlt den Bürgern allerdings das Vertrauen, dass der Staat wirksam eingreifen wird, und dann neigen sie eher dazu, weiterhin die traditionelle private Gewalt zu praktizieren). Die Erhaltung des Friedens innerhalb einer Gesellschaft gehört zu den wichtigsten Dienstleistungen, die ein Staat erbringen kann. Diese Leistung ist zu einem großen Teil die Erklärung für den scheinbaren Widerspruch, dass die Menschen seit dem Aufstieg der ersten Staatsregierungen im Fruchtbaren Halbmond vor rund 5400 Jahren mehr oder weniger freiwillig (und nicht nur unter Druck) einen Teil ihrer individuellen Freiheiten aufgaben, die Autorität staatlicher Regierungen anerkannten, Steuern zahlten und den Führungsgestalten und Beamten des Staates eine komfortable individuelle Lebensweise ermöglichten.
Ein Beispiel für das Verhalten, das Staatsregierungen unter allen Umständen zu verhindern versuchen, war der Fall Ellie Nesler in der kalifornischen Kleinstadt Jamestown etwa 160 Kilometer östlich von San Francisco. Ellie (Abb. 35 ) war die Mutter des sechsjährigen William, der den Vermutungen zufolge in einem christlichen Sommerlager von einem Betreuer namens Daniel Driver sexuell missbraucht worden war. Während einer gerichtlichen Voruntersuchung am 2 . April 1993 , bei der Daniel wegen sexuellen Missbrauchs von William und drei anderen Jungen angeklagt wurde, gab Ellie aus kurzer Entfernung fünf Schüsse auf Daniels Kopf ab, die ihn auf der Stelle töteten. Es war ein Vergeltungsakt: Ellie verteidigte ihren Sohn nicht gegen einen laufenden Angriff, und ein solcher Angriff stand auch nicht unmittelbar bevor, sondern sie rächte sich
nach
einem mutmaßlichen Ereignis. Zu ihrer Verteidigung erklärte Ellie, ihr Sohn sei wegen des Missbrauchs so verstört gewesen, dass er erbrechen musste und nicht gegen Daniel aussagen könne. Sie fürchte, Daniel würde freigesprochen, und sie habe kein Vertrauen in eine unfähige Justiz, die einen Sexualstraftäter mit einer Vorgeschichte derartiger Verhaltensweisen auf freiem Fuß gelassen habe, so dass er
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