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Vermächtnis

Vermächtnis

Titel: Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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seine Verbrechen begehen konnte.
    Ellies Fall gab im ganzen Land den Anlass zu einer Debatte über Selbstjustiz: Ihre Verteidiger priesen sie, weil sie Selbstgerechtigkeit geübt habe, ihre Kritiker verurteilten sie aus genau dem gleichen Grund. Jeder, der Kinder hat, wird Ellies Empörung verstehen und ein gewisses Mitgefühl für sie empfinden; vermutlich haben die meisten Eltern missbrauchter Kinder in ihrer Phantasie schon einmal genau das Gleiche getan wie Ellie. Die kalifornischen Behörden vertraten jedoch den Standpunkt, nur der Staat habe die Autorität, den Kinderschänder zu verurteilen und zu bestrafen; bei allem Verständnis für Ellies Wut werde die Staatsgewalt zusammenbrechen, wenn die Bürger die Gerechtigkeit wie Ellie selbst in die Hand nähmen. Sie wurde wegen Totschlags verurteilt und musste drei Jahre einer zehnjährigen Haftstrafe absitzen, bevor sie nach einer Haftbeschwerde, die sich auf ein Fehlverhalten der Jury stützte, freigelassen wurde.
    Es ist also das übergeordnete Ziel jeder staatlichen Justiz, eine verpflichtende Alternative zur Selbstjustiz zu schaffen und damit die Stabilität einer Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Diesem Hauptziel sind alle anderen Zwecke der staatlichen Justiz untergeordnet. Insbesondere hat der Staat nur ein geringes oder gar kein Interesse an dem überragend wichtigen Ziel der Justiz in kleinen, nichtstaatlichen Gesellschaften: der Wiederherstellung einer zuvor vorhandenen Beziehung oder Nicht-Beziehung (zum Beispiel durch Förderung eines Gefühlsaustausches) zwischen Konfliktparteien, die einander zuvor bereits gekannt haben oder voneinander wussten und auch später weiterhin miteinander zurechtkommen müssen. Die Konfliktlösung in nichtstaatlichen Gesellschaften ist also in erster Linie keine Justiz im staatlichen Sinne: Sie ist kein System, das nach den Gesetzen des Staates über Recht und Unrecht entscheidet. Behalten wir diese unterschiedlichen Primärziele einmal im Kopf und fragen wir, wie ähnlich sich staatliche und nichtstaatliche Systeme der Konfliktlösung in ihrer Funktionsweise sind.
    Staatliche Ziviljustiz
    Zunächst einmal muss man sich klarmachen, dass die staatliche Justiz sich in zwei Systeme gliedert, die oftmals unterschiedliche Gerichte, Richter, Anwälte und Organe der Rechtspflege beschäftigen: die Strafjustiz und die Ziviljustiz. Die Strafjustiz beschäftigt sich mit Verbrechen gegen die Gesetze des Staates, die vom Staat zu bestrafen sind. Gegenstand der Ziviljustiz sind Verletzungen, die von einer Person (oder Personengruppe) einer anderen zugefügt werden, ohne dass es sich aber um Straftatbestände handelt; sie gliedert sich nochmals in zwei Kategorien: Vertragsstreitigkeiten, die sich aus dem Bruch eines Vertrages ergeben und in denen es in der Regel um Geld geht; und Schadenersatzfälle, bei denen einer Person oder ihrem Eigentum durch die Handlungen einer anderen Schaden zugefügt wurde. Die Unterscheidung zwischen Straf- und Zivilprozessen ist in nichtstaatlichen Gesellschaften eine Grauzone: Dort gibt es gesellschaftliche Normen für das Verhalten zwischen Individuen, aber keine schriftlich fixierten Gesetze, in denen Verbrechen gegen eine formal definierte Institution – den Staat – beschrieben werden. Hinzu kommt, dass von einer Schädigung einer Person in der Regel auch andere betroffen sind, und in kleineren Gesellschaften schaffen solche Auswirkungen mehr Unruhe als in einem Staat – als Beispiel habe ich den Fall einer !Kung-Horde genannt, in der alle von dem Streit zwischen unglücklichen Eheleuten betroffen sind und sich einmischen. Man stelle sich vor, ein Scheidungsrichter in Kalifornien würde alle Bewohner des Ortes im Zusammenhang mit einer Scheidung als Zeugen vernehmen. In Neuguinea wird immer praktisch das gleiche System des Aushandelns von Schadensersatz angewandt, unabhängig davon, ob jemand absichtlich einen anderen umgebracht hat, ob es um die Rückzahlung eines Brautpreises nach einer Scheidung geht, oder ob das Schwein eines Mannes den Garten eines anderen beschädigt hat (was bei uns im ersten Fall ein Verbrechen, im zweiten eine Vertragsverletzung und im dritten eine Schadenersatzsache wäre).
    Vergleichen wir als Erstes einmal zivile Auseinandersetzungen in staatlichen und nichtstaatlichen Systemen. Sie sind sich insofern ähnlich, als dass in beiden Fällen eine dritte Partei vermittelt, die Konfliktparteien trennt und damit zur Beruhigung beiträgt. Solche Vermittler sind erfahrene

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