Vermächtnis
kleinsten Gesellschaften, lokalen Gruppen mit nur wenigen Dutzend Mitgliedern. Ein Anthropologe, der die !Kung (Abb. 6 ) besuchte, war beeindruckt: Sie sind eine Gesellschaft, in der die Menschen ständig reden; Meinungsverschiedenheiten lagen offen zutage, und wenn es Konflikte zwischen zwei Mitgliedern der Horde gab, waren auch alle anderen darin verwickelt. Während des einmonatigen Besuchs des Anthropologen waren zufällig gerade ein Ehemann und seine Frau nicht mehr miteinander glücklich, und andere Gruppenmitglieder (die alle auf diese oder jene Weise mit einem der Eheleute oder beiden verwandt waren) mischten sich ständig in die Diskussionen des Paares ein. Ein Jahr später kam der Anthropologe erneut auf Besuch und stellte fest, dass das Paar immer noch zusammen war; die beiden waren immer noch unglücklich miteinander, und andere Mitglieder der Gruppe beteiligten sich immer noch an den Diskussionen.
Auch die Siriono in Bolivien, die ebenfalls in kleinen Gruppen lebten, hatten den Berichten zufolge ständig Streit, insbesondere zwischen Ehemann und Ehefrau, zwischen mehreren Ehefrauen desselben Mannes, zwischen Schwager und Schwägerin oder zwischen den Kindern innerhalb derselben Familie. Von 75 Konflikten der Siriono, bei denen Außenstehende Zeuge wurden, drehten sich 44 um Lebensmittel (jemand hatte sie nicht geteilt, hatte sie gehortet, gestohlen, nachts im Lager heimlich aufgegessen, sich in den Wald begeben, um sie dort zu verzehren); bei 19 Konflikten ging es um Sexualität, insbesondere um Ehebruch; und nur in zwölf Fällen waren weder Lebensmittel noch Sexualität der Grund. Die meisten Konflikte zwischen den Siriono wurden ohne Schiedsrichter beigelegt; hin und wieder war ein Verwandter beteiligt, der eine Seite unterstützte. Wenn die Feindseligkeit zwischen zwei Familien im Lager stärker wurde, zog eine Familie unter Umständen weg und lebte allein im Wald, bis die Abneigung nachließ. Blieb sie bestehen, spaltete sich eine Familie ab und schloss sich einer anderen Horde an, oder sie bildete allein eine neue Horde. Hier wird ein wichtiges allgemeines Prinzip deutlich: Bei nomadisierenden Jägern und Sammlern oder anderen beweglichen Gruppen können Konflikte innerhalb der Gruppe einfach dadurch beigelegt werden, dass die Beteiligten sich weiter voneinander entfernen. Sesshaften Bauern, die in Dörfern wohnen und viel in ihre Gärten investiert haben, steht diese Möglichkeit nicht ohne weiteres offen, und noch schwieriger ist sie für uns im Westen zu realisieren, die wir an unsere Arbeitsplätze und Häuser gebunden sind.
Bei einer weiteren kleinen Gruppe, den Piraha-Indianern in Brasilien (Abb. 11 ) , wird der soziale Druck, sich nach den gesellschaftlichen Normen zu verhalten und Meinungsverschiedenheiten beizulegen, durch eine Form der abgestuften Verbannung ausgeübt. Es beginnt damit, dass jemand für einen Tag vom Teilen der Lebensmittel ausgeschlossen wird, dann geschieht dies für mehrere Tage, dann muss die betreffende Person ein Stück vom Dorf entfernt im Wald leben, wo sie vom normalen Handel und sozialen Austausch abgeschnitten ist. Die schwerste Sanktion ist bei den Piraha die vollständige Verbannung. Ein Piraha-Teenager namens Tukaaga tötete beispielsweise einen Indianer vom Stamm der Apurina, der Joaquim hieß und in der Nähe wohnte; damit setzte er die Piraha der Gefahr eines Vergeltungsangriffs aus. Daraufhin wurde Tukaaga gezwungen, weit weg von allen anderen Piraha-Dörfern zu wohnen, und nach einem Monat starb er unter rätselhaften Umständen; angeblich hatte er sich eine Erkältung zugezogen, möglicherweise wurde er aber in Wirklichkeit von anderen Piraha ermordet, die sich durch seine Taten gefährdet fühlten.
Mein vorletztes Beispiel handelt von den Fore, einer Gruppe aus dem Hochland von Neuguinea, bei der ich in den 1960 er Jahren arbeitete. Die Fore haben eine beträchtlich höhere Bevölkerungsdichte als die !Kung, Siriono oder Piraha und sind deshalb offensichtlich aggressiver. Sie wurden zwischen 1951 und 1953 von dem Anthropologenehepaar Ronald und Catherine Berndt studiert; zu jener Zeit wurde in der Region noch gekämpft. Da es weder eine zentrale Autorität noch formelle Mechanismen zum Umgang mit Vergehen gab, nahmen die Fore die Beilegung von Konflikten innerhalb eines Clans oder einer Großfamilie selbst in die Hand. Die Aufgabe, den eigenen Besitz vor Diebstahl zu schützen, oblag beispielsweise dem Eigentümer. Diebstahl wurde nach den
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