Vermächtnis
Verhandlungsführer wie Yaghean in Neuguinea, die Leopardenfell-Häuptlinge bei den Nuer und die Juristen in den staatlichen Gerichtshöfen. Darüber hinaus gibt es in Staaten noch andere Vermittler: Viele Meinungsverschiedenheiten werden außergerichtlich durch Dritte beigelegt, beispielsweise durch Schiedsleute, Vermittler und Schadensachbearbeiter. Obwohl Amerikaner in dem Ruf stehen, sehr prozessfreudig zu sein, wird der größte Teil aller zivilen Meinungsverschiedenheiten in den Vereinigten Staaten außergerichtlich oder durch Vergleich beigelegt. Manche Berufsstände, die nur aus wenigen Mitgliedern bestehen und das Monopol auf eine Ressource haben – beispielsweise die Hummerfischer in Maine, Rinderzüchter oder Diamantenhändler – legen Konflikte zwischen ihren Mitgliedern allein und ohne staatliche Mitwirkung bei. Nur wenn die Vermittlung eines Dritten nicht zu einer Einigung führt, die für alle Parteien annehmbar ist, greifen sie auf die Methode ihrer Gesellschaft zurück, ohne gegenseitige Übereinkunft einen Konflikt auszutragen: in nichtstaatlichen Gesellschaften mit Gewalt oder Krieg, in Staaten durch einen Prozess und ein formelles Urteil.
Eine weitere Ähnlichkeit besteht darin, dass sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Gesellschaften häufig die Kosten, die der Beklagte schuldig ist, auf viele andere verteilen. In Staatsgesellschaften schließen wir Auto- und Haftpflichtversicherungen ab, die für die Kosten aufkommen, wenn unser Auto eine Person verletzt oder ein anderes Auto beschädigt, oder wenn jemand auf den Stufen unseres Hauses, die aufgrund unserer Unachtsamkeit glitschig waren, ausrutscht und sich verletzt. Wir und viele andere zahlen die Versicherungsprämie, die das Versicherungsunternehmen in die Lage versetzt, solche Kosten zu begleichen; letztlich teilen also andere Versicherungsnehmer mit uns die Zahlungsverpflichtung und umgekehrt. Ähnlich sind die Verhältnisse auch in nichtstaatlichen Gesellschaften: Hier beteiligen sich Angehörige und andere Mitglieder des Clans an Zahlungen, die ein Einzelner leisten muss. Wie Malo mir beispielsweise erklärte, hätten die anderen Bewohner seines Dorfes zu der Schadenersatzzahlung für Billys Tod beigetragen, wenn Malo nicht in einem Unternehmen gearbeitet hätte, das die Zahlung leisten konnte.
Bei den Zivilstreitigkeiten in Staatsgesellschaften, die den Schadenersatzverhandlungen in Neuguinea am stärksten ähneln, handelt es sich um finanzielle Meinungsverschiedenheiten zwischen Parteien, die in einer langfristigen Geschäftsbeziehung stehen. Ergibt sich ein Konflikt, den solche Geschäftspartner allein nicht beilegen können, ist eine Partei unter Umständen verärgert und konsultiert einen Anwalt. Insbesondere wenn in einer langfristigen Beziehung bereits Vertrauen aufgebaut wurde, fühlt die geschädigte Partei sich übervorteilt oder betrogen und ist dann noch stärker verärgert, als wenn es sich um eine »Einmalbeziehung« handelt (das heißt um die erste geschäftliche Begegnung der beiden Parteien). Wie bei den Schadenersatzverhandlungen in Neuguinea, so führt auch die Kanalisierung geschäftlicher Meinungsverschiedenheiten mit Hilfe der Juristen zu einer Beruhigung, weil (so jedenfalls die Hoffnung) ruhige, vernünftige Äußerungen der Anwälte an die Stelle wütender persönlicher Angriffe zwischen den Parteien treten; damit verringert sich die Gefahr, dass die gegensätzlichen Positionen sich verhärten. Wenn beide Parteien die Aussicht haben, eine gewinnbringende Geschäftsbeziehung auch in Zukunft fortzusetzen, haben sie ein Motiv, eine gesichtswahrende Lösung zu akzeptieren – ganz ähnlich wie die Neuguineer in einem Dorf oder in Nachbardörfern, die damit rechnen müssen, sich während ihres gesamten weiteren Lebens immer wieder zu begegnen, und deshalb motiviert sind, eine Lösung zu finden. Wie mir befreundete Anwälte aber berichten, kommen echte Entschuldigungen und eine emotionale Verarbeitung im Stile Neuguineas in geschäftlichen Konflikten nur selten vor; in der Regel kann man bestenfalls erwarten, dass in einem späten Stadium ein Lippenbekenntnis einer Entschuldigung vorgebracht wird, das als Taktik zur Konfliktbeilegung gedacht ist. Wenn beide Parteien aber in einer Einmalbeziehung stehen und nicht damit rechnen, noch einmal miteinander Geschäfte zu machen, ist ihre Motivation, sich gütlich zu einigen, geringer (genau wie bei den Konflikten der Neuguineer oder Nuer, an denen Mitglieder weit
Weitere Kostenlose Bücher