Vermächtnis
der Freiheit. Außerdem argumentieren sie, es sei ein Eingriff in die Freiheit der Menschen, wenn man sie zwingt, ihre Meinungsverschiedenheiten mit Übeltätern beizulegen. Stattdessen sollten Opfer das Recht haben, den Staat um ein Urteil gegen ihre Gegenpartei zu bitten und dann, wenn dieses Urteil gefallen ist, sich einfach von denen, die ihnen etwas Schlechtes angetan haben, fernhalten.«
Darauf kann man erwidern, dass Staaten eine kostspielige Justiz unterhalten, die in der Massengesellschaft, in der Menschen sich nicht von Angesicht zu Angesicht kennen, hoch entwickelten, genau festgelegten Zwecken dient. Dennoch können wir von den Neuguineern etwas Wichtiges lernen, ohne die charakteristischen Ziele unserer Justiz zu beeinträchtigen. Wenn der Staat in einer Meinungsverschiedenheit ein Urteil fällt, hat er zu diesem Zweck Kosten verursacht. Warum soll man den Parteien nicht zumindest die Möglichkeit geben, den Konflikt nicht nur auf juristischer, sondern auch auf persönlicher Ebene beizulegen? Niemand sollte verlangen, dass Konfliktparteien sich eines Vermittlungssystems bedienen, das der Staat ihnen anbietet, und ein solches System würde nicht zwangsläufig die Stelle des üblichen, formellen Systems der Urteile einnehmen, es sei denn, die Parteien einigen sich ausdrücklich darauf. Stattdessen wären Vermittlungssysteme eine Ergänzung und möglicherweise ein Ersatz für die formelle Justiz, die aber dennoch verfügbar bleibt. Es würde nicht schaden, den Menschen diese Gelegenheit anzubieten, und daraus könnte viel Gutes erwachsen. Welche Gefahr dabei besteht, macht das System aus Neuguinea sehr gut deutlich: Die Menschen könnten unter Voraussetzungen, die ihre Würde und Freiheit beeinträchtigen, in die Vermittlung gezwungen werden, und das könnte das ursprüngliche Fehlverhalten noch ungerechter machen. Das reformierte System müsste gegen einen solchen Missbrauch abgesichert sein, aber die Möglichkeit des Missbrauchs ist kein Grund, den Gedanken, dass ein Fehlverhalten von Menschen auf menschlicher Ebene gelöst werden kann, völlig zu übergehen.
Staatliche Strafjustiz
Nachdem wir bisher staatliche und nichtstaatliche Konfliktlösungsmechanismen im Zusammenhang mit der Ziviljustiz betrachtet haben, wollen wir uns jetzt der Strafjustiz zuwenden. Hier stoßen wir sofort auf zwei grundlegende Unterschiede zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Systemen. Zum einen geht es in der staatlichen Strafjustiz darum, Verstöße gegen die Gesetze des Staates zu bestrafen. Eine vom Staat verhängte Strafe hat den Zweck, die Befolgung der staatlichen Gesetze durchzusetzen und den Frieden innerhalb des Staates aufrechtzuerhalten. Eine Gefängnisstrafe, die einem Verbrecher vom Staat auferlegt wird, hat weder den Effekt noch das Ziel, das Opfer für die Verletzung zu entschädigen. Und zweitens sind staatliche Zivil- und Strafjustiz aus diesem Grund getrennte Systeme, während sie in nichtstaatlichen Gesellschaften nicht gegeneinander abgegrenzt sind; dort geht es ganz allgemein um Schadenersatz für Einzelpersonen oder Gruppen, ganz gleich, ob das Vergehen in einer Staatsgesellschaft als Verbrechen, unerlaubte Handlung oder Vertragsbruch eingestuft würde.
Ein staatlicher Strafprozess läuft wie der Zivilprozess in zwei Stufen ab. Im ersten Stadium beurteilt das Gericht, ob der Angeklagte in einem oder mehreren Anklagepunkten schuldig ist. Das hört sich nach Schwarzweiß an und scheint nur Ja und Nein als Antwort zuzulassen. In der Praxis handelt es sich jedoch nicht um eine absolute Entscheidung, denn es kann mehrere Anklagepunkte mit unterschiedlicher Schwere geben: Nach einem Tötungsdelikt kann der Täter des vorsätzlichen Mordes, des Mordes an einem Polizisten im Einsatz, des Mordes in Tateinheit mit versuchter Entführung, des Mordes im Affekt, des Mordes in dem ehrlichen, aber unbegründeten Glauben, von dem Opfer gehe die unmittelbare Gefahr einer schweren körperlichen Verletzung aus, oder des Mordes aufgrund vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit oder verminderter Schuldfähigkeit schuldig gesprochen werden, und in jedem dieser Fälle sieht die Bestrafung anders aus. In der Realität werden viele Strafverfahren durch eine Verständigung zwischen den Parteien beigelegt, bevor es zu einem Urteil kommt. Wird in dem Fall aber ein Urteil gesprochen, muss die Entscheidung über schuldig oder nicht schuldig getroffen werden: Ellie Nesler wurde des Mordes an Daniel Driver für schuldig befunden,
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