Vermächtnis
obwohl sie mit ihrem Motiv, Vergeltung für den Missbrauch an ihrem Sohn zu üben, bei großen Teilen der Öffentlichkeit auf Mitgefühl stieß. In nichtstaatlichen Gesellschaften dagegen wird eine Verletzung regelmäßig in einer Grauzone angesiedelt: Ja, ich habe ihn umgebracht – aber meine Tat war gerechtfertigt, weil er Zauberei an meinem Kind praktiziert hat, oder weil sein Kreuzcousin meinen Onkel väterlicherseits getötet hat, oder weil sein Schwein meinen Garten beschädigt hat und er keinen Schadenersatz zahlen wollte, so dass auch ich seinen Angehörigen keinen oder zumindest nur einen niedrigeren Schadenersatz schulde. (Ähnliche mildernde Umstände spielen allerdings auch in einem Strafprozess nach westlichem Muster eine wichtige Rolle für das Strafmaß.)
Wenn der Angeklagte des Verbrechens für schuldig befunden wurde, folgt in einem Staat der zweite Teil des Verfahrens, die Verhängung einer Sanktion – beispielsweise einer Gefängnisstrafe. Die Strafe soll dreierlei Zwecken dienen, deren relative Gewichtung in den Justizsystemen der einzelnen Staaten unterschiedlich ist: Abschreckung, Vergeltung und Resozialisierung. Diese drei Zwecke unterscheiden sich vom Hauptziel der nichtstaatlichen Konfliktlösung, die in dem Schadenersatz für das Opfer besteht. Ellie Nesler und ihr Sohn wären für das Trauma des sexuellen Missbrauchs auch dann nicht entschädigt worden, wenn man Daniel Driver zu einer Haftstrafe verurteilt hätte.
Ein wichtiges Ziel der Bestrafung von Verbrechen ist die Abschreckung: Andere Bürger sollen davon abgehalten werden, die Gesetze des Staates zu brechen und auf diese Weise neue Opfer zu schaffen. Dabei sind die Wünsche des derzeitigen Opfers und seiner Angehörigen ebenso wie die des Verbrechers und seiner Angehörigen im Wesentlichen bedeutungslos: Die Bestrafung dient den Zwecken des Staates, der damit seine anderen Bürger vertritt. Dem Opfer, dem Verbrecher und ihren Angehörigen und Freunden wird es im besten Fall gestattet, das Wort vor der Verkündung des Urteils an das Gericht zu richten und ihre eigenen Wünsche hinsichtlich der Strafe zu äußern; es steht dem Gericht aber frei, solche Wünsche außer Acht zu lassen.
Sehr deutlich wurden diese unterschiedlichen Interessen von Staat und Opfer in einem Strafverfahren im US -Bundesstaat Kalifornien, das große öffentliche Aufmerksamkeit fand. Der Filmregisseur Roman Polanski wurde 1977 angeklagt, die 13 -jährige Samantha Geimer unter Verwendung von Betäubungsmitteln vergewaltigt und zum Analverkehr gezwungen zu haben. Er bekannte sich 1978 des Geschlechtsverkehrs mit einer Minderjährigen für schuldig, flüchtete dann aber nach Europa, bevor man ihn ins Gefängnis bringen konnte. Polanskis Opfer, heute eine Frau von über 40 Jahren, hat ihm nach eigenen Angaben verziehen und wünscht nicht, dass er weiter verfolgt oder inhaftiert wird. Beim Gericht beantragte sie die Einstellung des Verfahrens. Uns kommt es vielleicht zunächst paradox vor, dass der Staat Kalifornien bestrebt ist, einen Verbrecher gegen den ausdrücklichen Wunsch des Opfers in Haft zu nehmen, die Gründe, warum er es dennoch tut, wurden aber in einem Editorial der
Los Angeles Times
sehr eindringlich dargelegt: »Das Verfahren gegen Polanski wurde nicht angestrengt, um ihrem [des Opfers] Wunsch nach Gerechtigkeit oder ihrem Bedürfnis nach einer Verarbeitung nachzukommen. Er wurde vom Staat Kalifornien im Namen des Volkes von Kalifornien vor Gericht gebracht. Selbst wenn Geimer heute keinen Groll mehr gegen Polanski hegt, heißt das nicht, dass er nicht weiterhin eine Gefahr für andere darstellt … Verbrechen werden nicht nur gegen Einzelpersonen begangen, sondern auch gegen die Gemeinschaft … Menschen, die schwerer Verbrechen angeklagt sind, müssen ergriffen und vor Gericht gestellt werden, und wenn sie verurteilt sind, müssen sie ihre Strafe antreten.«
Ein zweiter Zweck der Strafe neben der Abschreckung ist die Vergeltung. Der Staat muss erklären können: »Wir, der Staat, bestrafen den Verbrecher, also hast du, das Opfer, keine Ausrede mehr, wenn du versuchst, selbst die Strafe in die Hand zu nehmen.« Aus vielfach diskutierten Gründen sind die Anzahl der Gefängnisstrafen und das Strafmaß in den Vereinigten Staaten höher als in anderen westlichen Staaten. Die USA sind das einzige westliche Land, das noch die Todesstrafe vollstreckt. Mein Land verhängt oft langjährige oder sogar lebenslange Gefängnisstrafen, die in
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