Vermächtnis
Familien von Nicole und Ron strengten danach aber im Namen von Nicoles Kindern und ihren Angehörigen ein Zivilverfahren gegen Simpson an und gewannen; in dem Urteil wurde ihnen eine Zahlung von insgesamt 33 , 5 Millionen Dollar zugesprochen (beim Eintreiben hatten sie allerdings nur geringen Erfolg). Leider gelingt es nur in Ausnahmefällen, in einem Zivilverfahren Schadenersatz zu erhalten, weil die meisten Verbrecher nicht wohlhabend sind und nicht über nennenswertes Vermögen verfügen, an das man sich halten könnte. In traditionellen Gesellschaften haben Opfer wegen der althergebrachten Philosophie der kollektiven Verantwortung bessere Aussichten auf Schadenersatz: Wie in Malos Fall ist nicht nur der Täter selbst zur Zahlung verpflichtet, sondern auch seine Angehörigen, andere Mitglieder seines Clans und seine Mitarbeiter. In der amerikanischen Gesellschaft dagegen liegt das Schwergewicht nicht auf kollektiver, sondern auf individueller Verantwortung. Wenn mein Cousin in Neuguinea von seiner Frau verlassen würde, könnte ich verärgert vom Clan der Frau die Rückzahlung jenes Anteils am Brautpreis verlangen, den ich bezahlt habe, um sie für meinen Cousin zu gewinnen; als Amerikaner bin ich froh, dass ich nicht in der Verantwortung für den Erfolg der Ehen meines Vetters stehe.
Ein vielversprechender Ansatz, der in manchen Fällen sowohl für einen nicht zum Tode verurteilten Verbrecher als auch für das überlebende Opfer oder die engsten Angehörigen eines toten Opfers zur emotionalen Aufarbeitung führen kann, wird als
Restorative Justice
(»Wiederherstellende Justiz«) bezeichnet. Dabei wird ein Verbrechen nicht nur als Angriff gegen den Staat betrachtet, sondern auch als Vergehen gegen das Opfer oder die Gemeinschaft; es führt Täter und Opfer zu einem direkten Gespräch zusammen (vorausgesetzt, beide sind dazu bereit), statt beide getrennt zu halten und die Anwälte für sie sprechen zu lassen; es ermutigt den Verbrecher, Verantwortung zu übernehmen, und das Opfer kann über seine Betroffenheit sprechen – beides wird sonst eher verhindert, oder es gibt dazu kaum eine Gelegenheit. Der Täter und sein Opfer (oder einer von dessen Angehörigen) treffen in Gegenwart eines ausgebildeten Vermittlers zusammen, der Grundregeln formuliert, beispielsweise dass man sich gegenseitig nicht unterbricht und nicht beschimpft. Opfer und Täter sitzen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber, sehen einander in die Augen und schildern abwechselnd ihre Lebensgeschichte, ihre Gefühle, ihre Motive und die Folgen des Verbrechens für ihr weiteres Leben. Der Verbrecher bekommt dabei unmittelbar zu sehen, welchen Schaden er angerichtet hat, und das Opfer erkennt im Verbrecher nicht mehr nur das unbegreifliche Monster, sondern einen Menschen mit einer Vergangenheit und Motiven; der Täter kann dabei unter Umständen Verbindungen zwischen einzelnen Punkten seiner Vergangenheit herstellen und verstehen, wie er auf die kriminelle Bahn geraten ist.
Ein Beispiel ist eine solche Begegnung in Kalifornien. Dabei trafen die 41 -jährige Witwe Patty O’Reilly und ihre Schwester Mary mit dem 49 Jahre alten Häftling Mike Albertson zusammen. Mike saß eine Gefängnisstrafe von 14 Jahren ab, weil er zweieinhalb Jahre zuvor Pattys Ehemann Danny getötet hatte; er hatte Danny, der auf dem Fahrrad unterwegs war, von hinten mit dem Lastwagen überfahren. In dem vierstündigen Gespräch erklärte Patty dem Täter, welchen Hass sie anfänglich gegen ihn empfunden hatte; sie erzählte, welche letzten Worte ihr Mann zu ihr gesprochen hatte, wie ein Polizist ihr und ihren beiden kleinen Töchtern die Nachricht von Dannys Tod überbracht hatte und wie sie noch jeden Tag durch Kleinigkeiten an Danny erinnert wurde, beispielsweise wenn sie ein Lied im Radio hörte oder einen Radfahrer sah. Mike erzählte Patty seine Lebensgeschichte: sexueller Missbrauch durch den Vater, Drogensucht, eine Rückenverletzung, die Schmerztabletten, die in der Nacht des Verbrechens ausgegangen waren, ein Telefongespräch mit seiner Freundin, die ihn abgewiesen hatte, wie er sich betrunken in seinen Lastwagen gesetzt hatte, um zur Untersuchung ins Krankenhaus zu fahren, und wie er den Fahrradfahrer gesehen hatte – er räumte ein, dass er Danny absichtlich überfahren hatte, einfach aus Wut gegen seinen Vater, der ihn immer wieder vergewaltigt hatte, und gegen seine Mutter, die es nicht verhindert hatte. Nach den vier Stunden fasste Patty das Gespräch
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