Vermächtnis

mit folgenden Worten zusammen: »Verzeihen ist schwer, aber nicht zu verzeihen ist noch schwerer.« Während der folgenden Woche fühlte sie sich erleichtert und gestärkt, weil der Mörder ihres Mannes erkannt hatte, welche verheerenden Folgen seine Tat hatte. Mike spürte nach dem Gespräch abwechselnd Erschöpfung, Depression und Auftrieb, weil Patty bereit gewesen war, sich mit ihm zu treffen und ihm zu verzeihen. Auf seinem Nachttisch hatte Mike eine Karte, die Patty ihm von ihrer Tochter Siobhan mitgebracht hatte: »Lieber Mr. Albertson, heute ist der 16 . August, und am 1 . September werde ich zehn. Ich möchte Ihnen nur versichern, dass ich Ihnen verzeihe. Ich vermisse meinen Papa immer noch, und ich glaube, das wird mein ganzes Leben so bleiben. Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Bye, bye, Siobhan.«
    Solche Programme der wiederherstellenden Justiz laufen in Australien, Kanada, Neuseeland, Großbritannien und verschiedenen US -Bundesstaaten teilweise schon seit 20  Jahren. Dabei wird immer noch viel experimentiert, wobei es unter anderem um folgende Fragen geht: Sollen an dem Treffen nur der Täter und das Opfer teilnehmen oder auch Angehörige, Freunde und Lehrer? Soll das Treffen bereits in einem frühen Stadium (kurz nach der Festnahme) stattfinden oder erst später (während der Haft wie im Fall von Patty und Mike)? Und bemüht sich der Täter um Wiedergutmachung gegenüber dem Opfer? Über die Ergebnisse gibt es viele Einzelfallberichte. In einigen Kontrolluntersuchungen wurden Verbrecher nach dem Zufallsprinzip einem von mehreren derartigen Programmen oder einer Kontrollgruppe ohne ein solches Programm zugeteilt, und dann wurden die Folgen statistisch ausgewertet. Die zusammenfassenden statistischen Analysen einiger Programme gelangten zu positiven Ergebnissen: Die Verbrecher begingen später weniger neue Taten, und wenn sie Taten begingen, waren diese weniger schwer; bei den Opfern verminderten sich die Wut- und Angstgefühle, und das Gefühl von Sicherheit und emotionaler Verarbeitung nahm zu. Wie nicht anders zu erwarten, waren die Ergebnisse besser, wenn der Täter bereit war, sich mit dem Opfer zu treffen, wenn er sich während der Begegnung aktiv einbrachte, und wenn er erkannte, welchen Schaden er angerichtet hatte; in Fällen, in denen die Verbrecher gegen ihren Willen und auf Anordnung des Gerichts an dem Treffen teilnahmen, waren die Ergebnisse weniger günstig.
    Natürlich ist die wiederherstellende Justiz kein Allheilmittel für alle Täter und Opfer. Sie setzt einen ausgebildeten Mediator voraus. Manche Täter empfinden keine Reue, und manchen Opfern würde es nicht helfen, das Verbrechen in Gegenwart des Täters noch einmal zu durchleben, sondern es würde sie noch stärker traumatisieren. Wiederherstellende Justiz ist kein Ersatz für unsere Strafjustiz, sondern im besten Fall eine Ergänzung. Aber sie verspricht viel.
    Vorteile und ihr Preis
    Welche Rückschlüsse können wir aus diesem Vergleich der Konfliktlösungsmechanismen in Staaten und Kleingesellschaften ziehen? Einerseits sollten wir auf dem Gebiet der Konfliktlösung genau wie in den anderen Bereichen, die in den nächsten Kapiteln erörtert werden, nicht naiv die Kleingesellschaften idealisieren. Wir sollten sie nicht ausschließlich bewundern, ihre Vorteile nicht überbetonen und Staatsregierungen nicht im besten Fall nur als notwendiges Übel schmähen. Andererseits besitzen viele Kleingesellschaften tatsächlich einige Merkmale, die wir mit großem Nutzen in unsere Staatsgesellschaften integrieren könnten.
    Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich zunächst noch einmal wiederholen, dass zur Konfliktlösung auch in der modernen Industriegesellschaft bereits Bereiche gehören, in denen ähnliche Mechanismen zur Anwendung kommen wie bei den Horden. Wenn wir uns mit einem Kaufmann auseinandersetzen, werden wir in der Regel nicht sofort einen Anwalt beauftragen oder Klage einreichen; zunächst diskutieren und verhandeln wir mit dem Kaufmann, ja vielleicht bitten wir sogar einen Bekannten, in unserem Auftrag mit ihm Kontakt aufzunehmen, wenn wir selbst zu verärgert sind oder uns hilflos fühlen. Ich habe bereits viele Berufsstände und Gruppen in der Industriegesellschaft erwähnt, die ihre eigenen, eingefahrenen Vorgehensweisen zur Konfliktlösung haben. In ländlichen Gebieten und anderen kleinen Enklaven, in denen jeder jeden kennt und mit einer lebenslangen Beziehung rechnet, sind Motivation und Druck, Konflikte