Vermächtnis
Essen und Trinken richten, werden sie überraschend getötet. Wir modernen Menschen müssen uns fragen, warum eine Yanomamo-Gruppe überhaupt in eine solche Falle geht, nachdem sie bereits Geschichten über frühere, ähnliche Betrügereien gehört hat. Dies dürfte damit zu erklären sein, dass ehrliche Feste häufig gefeiert werden; eine Einladung anzunehmen, ist in der Regel mit Vorteilen im Hinblick auf das Schmieden von Bündnissen und das Teilen von Nahrung verbunden, und die Gastgeber geben sich große Mühe, die Eingeladenen von ihren freundlichen Absichten zu überzeugen. Mir fällt nur ein einziges Beispiel aus moderner Zeit ein, an dem eine staatliche Regierung beteiligt war: das Massaker an dem Burenkommandanten Piet Retief und seinem ganzen Stab von 100 Männern durch den Zulukönig Dingane am 6 . Februar 1838 , als die Buren zu einem Festmahl in Dinganes Lager eingeladen waren. Dieses Beispiel könnte man für die Ausnahme halten, die die Regel bestätigt: Die Zulu waren nur eines von vielen hundert kriegführenden Häuptlingstümern gewesen, bevor das Land einige Jahrzehnte zuvor vereinigt und der Zulustaat gegründet wurde.
Derart unverfrorener Betrug wurde nach den Regeln der Diplomatie, an die sich moderne Staaten heute aus eigenem Interesse halten, größtenteils aufgegeben. Selbst Hitler und Japan erklärten der Sowjetunion beziehungsweise den Vereinigten Staaten zu dem Zeitpunkt, als sie die betreffenden Länder angriffen (aber nicht vorher), offiziell den Krieg. Staaten bedienen sich aber der Täuschung gegenüber Rebellen, bei denen sie sich nicht an die üblichen Regeln der zwischenstaatlichen Diplomatie gebunden fühlen. Der französische General Charles Leclerc hatte beispielsweise keine Skrupel, den haitianischen Unabhängigkeitskämpfer Toussaint Louverture am 7 . Juni 1802 zu einer Verhandlung einzuladen, um ihn dann festzunehmen und in ein französisches Gefängnis bringen zu lassen, wo er starb. In modernen Staaten gibt es solche heimtückischen Morde noch bei städtischen Banden, Drogenkartellen und Terroristengruppen, die nicht nach den Regeln der staatlichen Diplomatie operieren.
Eine weitere Form der traditionellen Kriegsführung, zu der es keine unmittelbare moderne Parallele gibt, ist ein Zusammentreffen, das nicht in betrügerischer Absicht stattfindet, aber zu einem Kampf eskaliert. Dies kommt weit häufiger vor als ein betrügerisches Fest: Nachbarvölker treffen sich zu einer Zeremonie, ohne dass die Absicht besteht, zu kämpfen. Dennoch bricht Gewalt aus, weil einzelne Personen einen nicht beigelegten Groll gegeneinander hegen, und da sie sich sonst nur selten begegnen, können sie sich jetzt, da sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, nicht beherrschen – sie beginnen zu kämpfen, und ihre Angehörigen machen auf beiden Seiten mit. Von einem Beispiel berichtete mir ein amerikanischer Bekannter, der bei einem der seltenen Treffen von mehreren Dutzend Fayu zugegen war: Es herrschte große Spannung, weil die Männer immer wieder mit gegenseitigen Beschimpfungen und Wutausbrüchen herausplatzten, mit ihren Äxten auf den Boden stießen und in einem Fall auch mit Äxten aufeinander losgingen. Das Risiko, dass bei einer Versammlung, die in friedlicher Absicht anberaumt wurde, auf diese Weise ein ungeplanter Kampf ausbricht, ist in traditionellen Gesellschaften groß: Nachbarvölker treffen nur selten zusammen, die Rache für frühere Kränkungen wird dem Einzelnen überlassen, und es gibt weder einen Anführer noch eine »Regierung«, die ein Monopol auf Gewalt hätten und Hitzköpfe in ihre Grenzen weisen könnten.
Die Eskalation spontaner Kämpfe zwischen Einzelnen zu einem organisierten Krieg von Armeen kommt in zentralisierten Staatsgesellschaften nur selten vor, aber es gibt sie. Ein Beispiel ist der sogenannte Fußballkrieg, der im Juni und Juli 1969 zwischen El Salvador und Honduras tobte. Zu einer Zeit, als zwischen den beiden Staaten wegen wirtschaftlicher Ungleichgewichte und ungelöster Einwanderungsfragen ohnehin große Spannungen herrschten, trafen ihre Fußball-Nationalmannschaften im Rahmen der Qualifikation für die Weltmeisterschaft von 1970 zu drei Spielen aufeinander. Während des ersten Spiels am 8 . Juni in der Hauptstadt von Honduras (das die Gastgeber 1 : 0 gewannen) begannen Fans der beiden Mannschaften zu kämpfen, und noch gewalttätiger wurden sie während der zweiten Partie am 15 . Juni in der Hauptstadt von El Salvador (die El
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