Vermächtnis
Informanten; das gilt beispielsweise für Jan Broekhuijse und seine detaillierten Berichte darüber, wer in den einzelnen Kämpfen der Dani unter welchen Umständen und an welchem Körperteil verletzt wurde.
Unsere Informationen über die traditionelle Kriegsführung stammen zum allergrößten Teil aus zweiter Hand und stützen sich auf Berichte, die Beteiligte den Besuchern aus dem Westen mitteilten, oder aber sie stammen aus der unmittelbaren Beobachtung durch Europäer (beispielsweise Beamte, Entdecker und Kaufleute), die keine ausgebildeten Wissenschaftler waren und keine Daten für Doktorarbeiten sammelten. So berichteten mir beispielsweise viele Neuguineer über ihre eigenen Erfahrungen mit der traditionellen Kriegsführung. Bei allen meinen Besuchen im australisch verwalteten östlichen Neuguinea (dem heute unabhängigen Papua-Neuguinea) und dem unter indonesischer Verwaltung stehenden West-Neuguinea habe ich aber nie persönlich miterlebt, wie Neuguineer andere Neuguineer angriffen. Die Reise in Regionen, in denen noch Kämpfe stattfanden, hätten die Regierungen Australiens und Indonesiens mir selbst dann nicht gestattet, wenn ich es gewollt hätte – was aber nicht der Fall war.
Die meisten Besucher aus dem Westen, die traditionelle Kriege beobachteten und beschrieben, waren keine professionellen Wissenschaftler. Sabine Kuegler zum Beispiel, die Tochter des Missionarsehepaares Klaus und Doris Kuegler, beschrieb in ihrem Buch
Dschungelkind
, was sie erlebte, als sie sechs Jahre alt war: zwischen dem Tigre-Clan der Fayu (bei denen ihre Familie wohnte) und Besuchern aus dem Sefoidi-Clan kam es zu einem Kampf mit Pfeil und Bogen; sie konnte zusehen, wie Pfeile um sie herumschwirrten und verwundete Männer mit Kanus abtransportiert wurden. Ähnliches erlebte der spanische Priester Joan Crespí, ein Teilnehmer der Expedition von Gaspar de Portolá, die 1769 bis 1770 als erste europäische Expedition auf dem Landweg zu den Chumash-Indianern an der südkalifornischen Küste vordrang: Er beschrieb im Detail, wie Gruppen der Chumash sich gegenseitig mit Pfeilen beschossen.
Alle diese Berichte von außenstehenden (in der Regel europäischen) Beobachtern, ob Anthropologen oder Laien, über die traditionelle Kriegsführung werfen ein Problem auf, das an das Heisenberg’sche Unschärfeprinzip aus der Physik erinnert: Die Beobachtung selbst stört das beobachtete Phänomen. In der Anthropologie heißt das, dass schon die Gegenwart von Außenstehenden zwangsläufig große Auswirkungen auf die zuvor »unberührten« Völker hat. Staatsregierungen bedienen sich in der Regel einer ganz bewussten Politik, um die traditionelle Kriegsführung zu beenden: Im 20 . Jahrhundert hatten beispielsweise die australischen Patrouillenbeamten im Territorium von Papua und Neuguinea oder beim Eindringen in eine neue Region zuallererst die Aufgabe, Kriege und Kannibalismus zu beenden. Das gleiche Ergebnis können Außenstehende, die nicht im staatlichen Auftrag handeln, auch auf andere Weise erzielen. Klaus Kuegler musste beispielsweise irgendwann darauf bestehen, dass seine Gastgeber vom Fayu-Clan nicht mehr in der Umgebung seines Hauses kämpften, sondern anderswo aufeinander schossen, denn sonst hätten er und seine Familie um ihrer eigenen Sicherheit und ihres Seelenfriedens willen abreisen müssen. Die Fayu stimmten zu und gaben es nach und nach völlig auf, gegeneinander zu kämpfen.
In allen diesen Fällen sorgten Europäer absichtlich dafür, dass Stammeskämpfe beendet wurden oder nachließen, manchen Behauptungen zufolge provozierten Europäer aber auch absichtlich solche Konflikte. Darüber hinaus können Außenstehende auf vielerlei Weise durch ihre Tätigkeit oder durch bloße Gegenwart unabsichtlich dazu beitragen, dass Kämpfe sich verstärken oder abschwächen. Wenn ein Beobachter von außen berichtet, er habe traditionelle Kriegsführung (oder ihr Fehlen) beobachtet, ist also zwangsläufig unklar, wie viele Kämpfe es gegeben hätte, wenn kein Außenstehender zugegen gewesen wäre. Ich werde im Laufe des Kapitels auf diese Frage zurückkommen.
Ein anderes Verfahren bestand in der Suche nach Belegen für Stammeskämpfe, die sich in archäologischen Funden aus der Zeit vor den ersten Besuchen von Außenstehenden erhalten haben. Diese Methode hat den Vorteil, dass der Einfluss zeitgenössischer Beobachter von außen völlig beseitigt wird. Aber auch hier besteht eine Analogie zum Heisenberg’schen Unschärfeprinzip,
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