Vermächtnis
beschriebenen Massakers von Talheim belegt wird. Staatliche Armeen verschonen Menschenleben und nehmen Gefangene, weil sie in der Lage sind, diese zu ernähren, zu bewachen, zur Arbeit einzuspannen und am Weglaufen zu hindern. Traditionelle »Armeen« nehmen keine feindlichen Krieger gefangen, denn sie könnten nichts tun, um diese zu ihrem eigenen Nutzen einzusetzen. Umzingelte oder besiegte traditionelle Krieger ergeben sich nicht, denn sie wissen, dass sie ohnehin getötet werden. Die ältesten historischen oder archäologischen Belege dafür, dass Staaten Gefangene machten, kennt man erst aus der Zeit vor 5000 Jahren, als die Staaten Mesopotamiens die praktischen Probleme, Gefangene nutzbar zu machen, gelöst hatten: Man stach ihnen die Augen aus, damit sie nicht wegliefen, und ließ sie dann Arbeiten verrichten, die ausschließlich mit dem Tastsinn bewältigt werden konnten wie das Spinnen und manche Tätigkeiten im Garten. Wenige große, sesshafte, wirtschaftlich spezialisierte Stämme und Häuptlingstümer von Jägern und Sammlern, beispielsweise die Indianer an der Nordwestküste Nordamerikas und die Calusa-Indianer in Florida, waren ebenfalls regelmäßig in der Lage, Gefangene zu versklaven, am Leben zu erhalten und nutzbar zu machen.
Für Gesellschaften dagegen, die einfacher sind als die Staaten Mesopotamiens, die Indianer an der nordamerikanischen Nordwestküste und die Calusa, haben besiegte Feinde, die noch leben, keinen Wert. Dani, Fore, die Inuit im Nordwesten Alaskas, die Bewohner der Andamanen und viele andere Stämme verfolgten mit ihren Kriegen das Ziel, das Land des Feindes unter ihre Herrschaft zu bringen und Feinde beiderlei Geschlechts und aller Altersstufen auszurotten wie die Dutzende von Dani-Frauen und -Kindern, die während des Massakers am 4 . Juni 1966 getötet wurden. Andere traditionelle Gesellschaften, so die Nuer bei ihren Überfällen auf die Dinka, waren wählerischer: Sie töteten die Männer, erschlugen Babys und ältere Frauen mit Knüppeln, nahmen aber Dinka-Frauen im heiratsfähigen Alter mit nach Hause, wo sie mit Nuer-Männern zwangsverheiratet wurden, und auch Dinka-Kinder, die nicht mehr gestillt wurden, nahmen sie mit und zogen sie als Nuer groß. Auch die Yanomamo ließen feindliche Frauen am Leben, um sie als Partnerinnen zu nutzen.
Totaler Krieg bedeutet bei traditionellen Gesellschaften auch, dass alle Männer mobilisiert werden, bei den Dani bis hin zu allen Jungen über 6 Jahren, die in der Schlacht vom 6 . August 1961 mitkämpften. Kriege zwischen Staaten dagegen werden in der Regel von proportional winzig kleinen Berufsarmeen aus erwachsenen Männern ausgefochten. Die Grande Armée, mit der Napoleon 1812 in Russland einmarschierte, bestand aus 600 000 Männern und war damit nach den Maßstäben eines staatlichen Krieges im 19 . Jahrhundert riesengroß, aber diese Zahl machte noch nicht einmal zehn Prozent der Gesamtbevölkerung Frankreichs zu jener Zeit aus (in Wirklichkeit war der Anteil sogar noch geringer, denn manche Soldaten waren Verbündete, die nicht aus Frankreich stammten). Selbst in den modernen staatlichen Armeen sind die Kampftruppen in der Regel gegenüber den Nachschubtruppen in der Minderheit: Für die US -Armee liegt das Verhältnis heute bei 1 zu 11 . Die Dani hätten für die Armeen Napoleons und der Vereinigten Staaten, die im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der jeweiligen Gesellschaft nicht mehr Kampftruppen ins Feld schicken konnten, nur Spott übriggehabt. Dagegen wäre ihnen Shermans Verhalten bei seinem Marsch zum Meer bekannt vorgekommen: Es erinnert daran, wie die Dani bei dem Überfall im Morgengrauen des 4 . Juni 1966 vorgingen, als sie Dutzende von Siedlungen niederbrannten und Schweine stahlen.
Beendigung von Kriegen
Nach dieser Unterscheidung zwischen totalem und begrenztem Krieg bleibt noch ein wichtiger Unterschied zwischen Stammeskonflikten und staatlichen Kriegen: Es ist unterschiedlich leicht oder schwer, den Krieg zu beenden und Frieden zu halten. Wie wir in Kapitel 3 am Beispiel des Krieges bei den Dani erfahren haben, kommt es bei Kriegen in Kleingesellschaften häufig zu einem Kreislauf von Rachemorden. Ist auf Seite A jemand ums Leben gekommen, muss die Seite A Rache nehmen und jemanden von der Seite B töten, woraufhin deren Mitglieder wiederum nach Rache gegen die Seite A rufen. Der Kreislauf endet erst, wenn eine Seite ausgerottet oder vertrieben wurde, oder wenn beide Seiten erschöpft sind, viele
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