Vermächtnis
Tote zu beklagen haben und einsehen, dass sie den jeweils anderen aller Wahrscheinlichkeit nach weder ausrotten noch vertreiben können. Analoge Überlegungen gelten zwar auch für die Beendigung staatlicher Kriege, Staaten und große Häuptlingstümer ziehen aber mit viel begrenzteren Zielsetzungen in den Krieg als Horden und Stämme: Sie wollen höchstens das feindliche Territorium erobern.
Für einen Stamm ist es aber viel schwieriger als für einen Staat (oder ein großes, zentralisiertes Häuptlingstum), sich für eine Beendigung der Kämpfe zu entscheiden und mit dem Feind einen Waffenstillstand auszuhandeln – in einem Staat gibt es zentralisierte Entscheidungsprozesse und Verhandlungsführer, einem Stamm dagegen fehlt die zentralisierte Führung, und alle können mitreden. Auch nachdem der Waffenstillstand ausgehandelt wurde, ist die Aufrechterhaltung des Friedens für einen Stamm schwieriger. In jeder Gesellschaft, ob Stamm oder Staat, gibt es einige Personen, die mit dem Friedensabkommen nicht einverstanden sind und irgendeinen Feind angreifen wollen, weil sie eigene, private Gründe haben oder einen neuen Ausbruch der Kämpfe provozieren wollen. Eine Staatsregierung, die für sich das Gewaltmonopol beansprucht, kann solche Hitzköpfe in der Regel in ihre Schranken weisen; ein schwacher Stammesführer ist dazu nicht in der Lage. Deshalb ist der Frieden zwischen Stämmen zerbrechlich und kann schnell zu einer Fortsetzung des Krieges verkommen.
Dieser Unterschied zwischen Staaten und kleinen, zentralisierten Gesellschaften ist ein wichtiger Grund dafür, dass es überhaupt Staaten gibt. Eine alte Diskussion zwischen Politikwissenschaftlern dreht sich um die Frage, wie Staaten entstehen und warum die Regierten sowohl Könige und Abgeordnete als auch deren Bürokraten anerkennen. Vollzeitpolitiker bauen keine eigenen Lebensmittel an, sondern leben von Nahrung, die ihnen von unseren Bauern zur Verfügung gestellt wird. Wie überreden oder zwingen uns die Politiker, sie zu ernähren, und warum lassen wir zu, dass sie im Amt bleiben? Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau spekulierte ohne jeden Anhaltspunkt für die Richtigkeit seiner Überlegungen, Regierungen entstünden aufgrund rationaler Entscheidungen der Massen, die erkannt hätten, dass ihren Interessen unter einer Führung und einem Beamtenapparat besser gedient sei. In allen Fällen, in denen die Geschichtsforschung etwas über die Entstehung von Staaten weiß, hat man nie solche weitsichtigen Berechnungen beobachtet. In Wirklichkeit entstehen Staaten aus Häuptlingstümern durch Konkurrenz, Eroberung oder äußeren Druck: Das Häuptlingstum mit den besten Entscheidungsmechanismen kann sich besser gegen Eroberungen zur Wehr setzen oder andere Häuptlingstümer in der Konkurrenz überflügeln. In den Jahren 1807 bis 1817 verbanden sich beispielsweise beim südostafrikanischen Volk der Zulu mehrere Dutzend Häuptlingstümer zu einem Staat unter Führung eines Häuptlings namens Dingiswayo: Er eroberte die Einflussbereiche aller anderen Häuptlinge, weil es ihm besser als den anderen gelang, eine Armee zu rekrutieren, Konflikte beizulegen, besiegte Häuptlingstümer zu integrieren und sein Territorium zu verwalten.
Obwohl Stammeskriege so spannend und prestigeträchtig sind, begreifen Stammesangehörige besser als jeder andere, welches Elend mit der Kriegsführung verbunden ist, welche allgegenwärtigen Gefahren lauern und welchen Schmerz der Tod geliebter Menschen verursacht. Wenn Stammeskonflikte durch gewaltsamen Eingriff einer Kolonialregierung beendet wurden, berichten die Stammesangehörigen regelmäßig von einer nachfolgenden besseren Lebensqualität, die sie selbst nicht schaffen konnten, weil sie ohne Zentralregierung nicht in der Lage waren, den Kreislauf der Rachemorde zu unterbrechen. Die Männer der Auyana im Hochland Neuguineas sagten zu dem Anthropologen Sterling Robbins: »Seit die Regierung da war, ist das Leben besser geworden, denn jetzt konnte ein Mann essen, ohne über die Schulter blicken zu müssen, und er konnte morgens zum Wasserlassen aus dem Haus gehen, ohne dass er fürchten musste, erschossen zu werden. Alle Männer bekannten sich dazu, dass sie beim Kämpfen Angst hatten. Als ich ihnen diese Frage stellte, starrten sie mich sogar an, als sei ich nicht ganz richtig im Kopf. Die Männer gaben auch an, sie hätten Albträume gehabt, in denen sie während eines Kampfes von ihrer Gruppe getrennt wurden und keinen
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