Vermählung um Mitternacht
Wenn sie ehrlich war, musste sie sogar zugeben, dass sie mehr gewollt hatte. Doch diesen Gedanken verdrängte sie rasch.
Sie seufzte und zwang sich, sich der vorliegenden Aufgabe zu widmen: den Argusaugen von Alecs übereifrigen Dienstboten zu entgehen. Nach letzter Nacht brauchte sie etwas Zeit, um sich über die Gefühle klar zu werden, die der Kuss ihres verruchten Gatten in ihr hervorgerufen hatte.
Julia beugte sich über das Treppengeländer und spähte in die Eingangshalle. Helle Sonnenstrahlen wärmten das gebohnerte Parkett, so dass es im Raum leicht nach Bienenwachs roch. Von unten rief Mrs. Winston nach Burroughs, damit er ihr half, die Tabletts mit dem Frühstück hinaufzutragen. Ohne weitere Zeitverschwendung hastete Julia die Treppe hinunter und eilte zur Tür hinaus.
Strahlender Sonnenschein empfing sie. Julia blinzelte in die Sonne. Vögel zwitscherten, die Bäume rauschten, und auf dem Kopfsteinpflaster erklang Hufgeklapper. Es war ein herrlicher Tag.
Lächelnd rückte sie den Strohhut zurecht und band die kirschroten Bänder. Das Einzige, was jetzt noch fehlte, um den Tag vollkommen zu machen, war Alec, der seinen Kuss einforderte.
Sie stellte sich vor, dass die warmen Sonnenstrahlen in ihrem Gesicht in Wirklichkeit seine Hände waren. Sie wünschte sich, er würde sie in die Arme nehmen und küssen, bis sie nach Atem rang. Einen Augenblick lang gestattete sie sich, dieser Tagträumerei nachzugeben, bis das Rattern einer Kutsche sie wieder in die Wirklichkeit zurückholte.
»Genug jetzt«, murmelte sie und zupfte den Schal aus spanischer Spitze zurecht. Am besten streichst du den letzten Abend ganz aus deinem Gedächtnis.
Alec würde ohnehin mit höllischen Kopfschmerzen erwachen und sich nicht mehr an ihren Besuch in der Bibliothek erinnern. Seufzend überlegte Julia, wie bedauerlich es doch war, dass sie sich immer nach Dingen sehnte, die sie nicht bekommen konnte.
»Wohin des Wegs an diesem strahlenden Morgen?« riss sie eine tiefe männliche Stimme aus ihren Überlegungen.
Julia erstarrte. Alec lehnte an seinem Jagdwagen, frisch rasiert und makellos gekleidet. Er sah sündig, gefährlich und attraktiv aus.
Ihr erster Impuls war, kehrtzumachen und ins Haus zurückzueilen. Oder rasch noch das kirschrote Musselinkleid anzuziehen, dass sie erst kürzlich gekauft hatte. Warum, o warum nur trug sie das grün gestreifte Batistkleid? Sie fing seinen fragenden Blick auf und errötete. »Ich dachte, du schläfst noch.«
»Schleichst du deswegen wie eine Diebin aus dem Haus?«
» Ich schleiche nicht!«
Er zog die Brauen hoch, um höflich anzudeuten; dass er ihr das nicht abnahm. Die Sonne schien auf seinen sinnlichen Mund - jener Mund, der den ihren so mühelos in Besitz genommen und ihr den Atem geraubt hatte, bis sie nur noch Alec schmeckte.
Julia entdeckte, dass sie die Bänder ihres Hutes viel zu fest gebunden hatte, und zog sie rasch auf.» Ich wollte die Dienstboten nicht belästigen.« Oder sich von ihnen belästigen lassen, was der Wahrheit schon eher entsprach.
» Wolltest du etwa ohne Begleitung ausgehen?«
Der trügerisch höfliche Ton machte Julia nervös. Misstrauisch beäugte sie ihn. » Ich wollte eine Droschke rufen.«
In einer einzigen geschmeidigen Bewegung stieß er sich von der Kutsche ab und baute sich vor ihr auf - der Inbegriff männlicher Unduldsamkeit. » Du sollst nicht allein ausgehen.«
Vorsichtig wich sie einen Schritt zurück. » Nach Whitechapel habe ich Johnston immer mitgenommen, aber heute will ich nicht dorthin.« Zumindest nicht gleich.
Mit zusammengebissenen Zähnen starrte Alec auf sie hinab. Jetzt konnte Julia erkennen, dass er Schatten unter den Augen hatte und die Falten um seinen Mund tiefer waren als sonst. Und doch ließen ihn diese Anzeichen der Ausschweifung nur noch attraktiver wirken.
Julia überlegte, wie sie wohl aussähe, wenn sie so wenig geschlafen und so viel getrunken hätte wie er. Es war einfach nicht gerecht. Sie warf den Kopf zurück. » Wenn du glaubst, du kannst mich einschüchtern, indem du mich anstarrst, hast du dich getäuscht. Ich bin es durchaus gewohnt, angestarrt zu werden. Tatsächlich vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht angestarrt werde.«
» Das überrascht mich nicht« , erwiderte er grimmig.
Ganz schön unverschämt. Durch die Wimpern lugte sie zu ihm auf und beschloss weise, es ihm durchgehen zu lassen. »Ich muss wirklich los. Bitte ruf mir eine Droschke.« Sie war stolz darauf, wie kühl und entschieden sie
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