Vermiss mein nicht
war und er sie durch eine andere Suche zu ersetzen versuchte. Theoretisch hatte der Psychologe vielleicht sogar recht, aber Jack hielt eisern an seiner Überzeugung fest, dass ihm Sandy nicht deshalb so wichtig war, weil er unwillig und unfähig war, den nächsten Schritt zu tun. Entschlossen schüttelte er den Gedanken ab, dass er Mary in gewisser Weise ähnelte, dass auch er sich an Erinnerungen klammerte und einen Moment festhielt, der längst der Vergangenheit angehörte. Wie sollte seine Suche nach Sandy ihm helfen, Donal zu finden? Hing das eine überhaupt mit dem anderen zusammen? Schließlich zog er sich die Decke über den Kopf und versteckte sich vor den Sternen und Galaxien über ihm. Realistisch gesehen half es ihm nicht, wenn er Sandy suchte, aber irgendetwas in seinem Herzen, in seinem Kopf trieb ihn dennoch vorwärts.
Morgen war Freitag, dann war Sandy, falls sie nicht auftauchte, schon sechs Tage verschwunden. Er musste einen Entschluss fassen. War es Zeit, sich auszuklinken, Zeit, die Tür zu öffnen und die gefangene Zeit, die konservierten Erinnerungen endlich freizulassen? Sollte er das Vergangene vergessen und nachholen, was er verpasst hatte? Oder sollte er die Suche fortsetzen, so seltsam sie auch anmuten mochte? Er dachte an Gloria, die jetzt zu Hause im Bett lag, an seine schwindenden Gefühle für sie, an sein Leben und ihre gemeinsame Zukunft. Und er beschloss, dass er sich, genau wie der halbwüchsige Bobby, der immer noch in diesem Zimmer hauste, auf Entdeckungsreise machen würde.
Am nächsten Morgen erwachte er um Viertel vor neun, weil sein Handy klingelte.
»Hallo?«, krächzte er, während er sich umschaute und eine Schrecksekunde lang dachte, er hätte eine Zeitreise zurück in seine Teenagerjahre unternommen und wäre im Haus seiner Mutter. Seine Mutter. Auf einmal sehnte er sich schrecklich nach ihr.
»Was zum Teufel machst du denn?«, fragte seine Schwester Judith ihn ärgerlich. Im Hintergrund hörte er Kindergeheul und Hundegebell.
»Ich versuche aufzuwachen«, ächzte er.
»Ach ja?«, gab sie sarkastisch zurück. »Neben wem denn?«
Jack drehte sich nach rechts und sah die Blondine an, die nicht viel mehr anhatte als einen Cowboyhut und Westernstiefel. »Candy aus Houston, Texas. Sie liebt Pferde und hausgemachte Limonade und geht gern mit ihrem Hund Charlie spazieren.«
»Was?«, kreischte Judith, und das Geheul wurde lauter.
Jack fing an zu lachen. »Entspann dich, Jude! Ich liege im winzigen Jugendzimmer eines Sechzehnjährigen, kein Grund zur Sorge.«
»
Wo
liegst du?«
Waren das Schüsse, die er da hörte?
» JAMES , STELL DEN FERNSEHER LEISE !«
»Autsch.« Jack hielt den Hörer ein Stück vom Ohr weg.
»Tut mir leid, hat dich dieses ferne Geräusch etwa gestört?«, spottete sie.
»Judith, warum bist du heute denn so fuchsig?«
Sie seufzte. »Ich dachte, du hättest in Dublin nur einen Arzttermin.«
»Hatte ich auch, aber dann dachte ich, ich frage noch ein bisschen rum, ehe ich wieder heimfahre.«
»Geht es immer noch um die Frau von der Personensuche?«
»Sandy Shortt, ja.«
»Was hast du bloß vor, Jack?«, fragte sie.
Er lehnte den Kopf an die unteren Regionen von Barbara aus Australien. »Ich bringe mein Leben in Ordnung.«
»Indem du es erst mal auseinandermontierst?«
»Weißt du noch, wie wir immer an Weihnachten das Humpty-Dumpty-Puzzle gemacht haben?«
»Ojemine, jetzt hat er endgültig den Verstand verloren«, stöhnte sie.
»Sei nett. Weißt du es noch?«
»Wie könnte ich das jemals vergessen? Das erste Mal haben wir bis März gebraucht, und alles nur, weil Mum den Esstisch in Eile abgeräumt hat, als Father Keogh zu einem seiner Überraschungsbesuche aufgekreuzt ist.«
Sie lachten beide.
»Und erinnerst du dich, was Dad uns beigebracht hat? Wir sollten alle Teile erst mal einzeln richtig rum hinlegen und sie
dann
zusammensetzen.«
»Und da haben wir gesehen, dass ein Text draufstand, nach dem wir uns richten konnten.« Sie seufzte. »Dann suchst du also zurzeit die Einzelteile zusammen?«
»Genau.«
»Mein kleiner Bruder, der Philosoph. Was ist aus den Besäufnissen und Furzwitzen geworden?«
»Irgendwo in mir drin existieren die immer noch!«, lachte er.
Judith wurde wieder ernst. »Ich verstehe, was du durchmachst, und ich verstehe auch, was du tust, aber musst du es denn wirklich alleine angehen, ohne jemandem ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen? Kannst du nicht wenigstens zum Festival dieses Wochenende
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