Vermiss mein nicht
Bücher, Nippes, Heimdekorationen und überhaupt alles kaufen konnte. Der Erlös kam wohltätigen Zwecken zugute. Die Klamotten aus zweiter oder oft auch dritter Hand, die verstaubten, eselsohrigen Bücher und abgelegten Spielsachen verbreiteten einen muffigen Geruch. Hier hatte Mary mit Bobby die ganzen sechzehn Jahre seines Lebens verbracht.
Jetzt stand sie auf. »Noch Kaffee?«
»Ja, gern.« Jack folgte ihr in die Küche, wo es noch mehr Fotos gab, an den Wänden, auf dem Fensterbrett. »Kommt denn von den anderen, die ich angerufen habe, niemand zum Treffen?« Eigentlich hatte Jack ein paar Leute mehr erwartet.
»So kurzfristig können die das nicht einrichten. Peter wohnt in Donegal und hat zwei kleine Kinder, Clara und Jim leben in Cork und sind seit kurzem geschieden, sodass die Chancen, beide in einen Raum zu locken, sowieso gering sind. Wirklich traurig. Ihre Tochter Orla ist seit sechs Jahren verschwunden. Ich glaube, das hat sie einander entfremdet.« Sie schenkte Kaffee ein. »Solche Veränderungen haben oft eine Art magnetischen Effekt – entweder treiben sie die Leute auseinander oder sie schweißen sie noch enger zusammen. Unglücklicherweise war es in diesem Fall das Erstere.«
Sofort musste Jack an Gloria denken. Auch auf sie beide hatte die Erfahrung distanzierend gewirkt.
»Aber ich bin sicher, wenn wir sie wirklich brauchen, sind sie sofort bei der Stelle.«
»Hat Sandy all diesen Menschen geholfen?«
»Sie hilft ihnen auch weiterhin, Jack. Sie ist nicht für immer verschwunden. Sie ist ein Arbeitstier. Ich weiß, Sie haben sie noch nie in Aktion gesehen, aber sie meldet sich jede Woche bei uns, nach all den Jahren. Sie möchte es gern als Erste erfahren, wenn es Neuigkeiten gibt. Aber in letzter Zeit waren die Anrufe hauptsächlich dafür da, um nachzufragen, wie es uns geht.«
»Hat diese Woche schon jemand von ihr gehört?«
»Nein, noch niemand.«
»Ist das nicht ungewöhnlich?«
»Nicht ganz.«
»Ein paar Leute haben mir gesagt, es sei typisch für Sandy, dass sie einfach eine Weile verschwindet, ohne jemandem Bescheid zu sagen.«
»Sie ist immer mal wieder weg gewesen, aber meistens hat sie dann von dort angerufen, wo sie grade war. Wenn es eins gibt, dem Sandy sich hundertprozentig verpflichtet fühlt, dann ist es ihre Arbeit.«
»Und das ist das Einzige?«
»Ja – würde mich jedenfalls nicht überraschen«, nickte Mary. »Sandy war …« sie korrigierte sich »… ich meine, Sandy ist nicht sehr mitteilsam. Sie ist ein Profi darin, nichts von sich preiszugeben. Familie und vor allem Freunde werden nie erwähnt. Nie. Dabei kenne ich sie jetzt schon seit drei Jahren.«
»Ich glaube, sie hat keine Freunde«, meinte Jack, der inzwischen mit einem frischen Kaffeebecher am Küchentisch saß.
»Na ja, dafür hat sie uns«, entgegnete Mary und setzte sich zu ihm. »Bei Graham Turner haben Sie wahrscheinlich nichts erreicht, oder?«
Jack schüttelte den Kopf. »Grade heute hab ich mit ihm gesprochen. Wenn Verwandte und Bekannte sagen, dass es für Sandy ganz normal ist, immer mal wieder zu verschwinden, dann kann er nichts machen. Sie stellt weder für sich noch für andere eine Gefahr dar, und es gibt nichts Verdächtiges an ihrem Verschwinden.«
»Ein verlassenes Auto mit ihren ganzen Habseligkeiten drin ist nicht verdächtig?«, fragte Mary verwundert.
»Nicht, wenn so was öfter vorkommt.«
»Aber was ist mit der Uhr, die Sie gefunden haben?«
»Der Verschluss war kaputt, anscheinend verliert sie die Uhr immer mal wieder.«
Mary schüttelte besorgt den Kopf. »Sieht aus, als würde die Arme jetzt für ihre ganzen ungewöhnlichen Verhaltensweisen bestraft.«
»Ich möchte schrecklich gern mit ihren Eltern sprechen und sehen, was sie von der ganzen Sache halten. Es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass man sich keine Sorgen machen soll, wenn man von jemandem fünf Tage lang nichts gehört hat.« Im tiefsten Innern wusste er natürlich, dass das durchaus möglich war. Auch er stand weder Donal noch dem Rest der Familie sehr nahe. Außer von Judith hörte er oft wochenlang nichts. Nur seine Mutter hatte spätestens nach drei Tagen Alarm geschlagen.
»Ich hab die Adresse, falls Sie sie wollen.« Mary stand auf und kramte in einer Küchenschublade. »Manchmal hat Sandy mich gebeten, ihren Eltern was zu schicken.«
»Aber ich kann doch da nicht unangemeldet reinschneien«, meinte Jack.
»Warum nicht? Schlimmstenfalls reden sie nicht mit Ihnen, aber den Versuch ist es
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