Vermiss mein nicht
Taylor?«
War das eine Frage?
»Hi, Christine.«
Schweigen.
»Ich bin Sandy«, fügte ich hinzu.
Ihre Augen wurden schmal, während sie in meinem Gesicht nach Anzeichen suchte, ob ich sie erkannte.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich höflich.
»Ich bin seit zweieinhalb Jahren hier?« Wieder in diesem fragenden Ton.
»Aha.« Ich sah Bobby an, der schweigend die Augen verdrehte. »Das ist ziemlich lange, oder nicht?«
Erneut nahm sie mich aufs Korn.
»Ich hab in Dublin gewohnt?«
»Ach wirklich? Dublin ist eine sehr schöne Stadt«, nickte ich.
»Ich hab drei Brüder und eine Schwester?« Anscheinend war sie fest entschlossen, nichts unversucht zu lassen, um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. »
Andrew
Taylor?« Sie musterte mich eindringlich. »
Roger
Taylor?« Erwartungsvolles Schweigen. »
Gavin
Taylor?« Erwartungsvolles Schweigen. »
Roisín
Taylor, meine Schwester?« Erneut eindringliches Mustern. »Sie ist Krankenschwester im Beaumont Hospital?«
»Soso.« Ich nickte langsam.
»Kennen Sie jemanden von ihnen?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Nein, tut mir leid.« Ich sagte die Wahrheit. »Aber es war nett, Sie kennenzulernen.« Wir wollten uns abwenden, aber sie packte mich am Arm. »Hey!«, jaulte ich und versuchte sie abzuschütteln. Doch ihr Griff wurde nur noch fester.
»Lassen Sie los!«, mischte Bobby sich ein.
»Sie kennen meine Familie, stimmt’s?«, beharrte die Frau.
»Nein!«, rief ich und trat einen Schritt zurück, ohne jedoch ihren Klauen zu entkommen.
»Meine Mum und mein Dad sind Charles und Sandra Taylor.« Jetzt redete sie schneller. »Die kennen Sie wahrscheinlich auch. Sagen Sie mir nur, wie …«
»Lassen Sie mich endlich gehen!«, kreischte ich und riss mich los. Um uns herum wurde es totenstill, und überall drehten sich Köpfe nach uns um.
Endlich gab Christine auf und kehrte zu ihrer Gruppe zurück. Aber sie ließen mich nicht aus den Augen.
»Tut mir leid, wir müssen zu den Proben, sonst kommen wir zu spät«, rief Bobby den Umstehenden zu, nahm mich an meinem strapazierten Arm und zog mich weg. Wie unter Schock ließ ich mich wegführen, und wir durchquerten die Menschenmenge im Laufschritt, verfolgt von den Blicken, die sich in meinen Rücken bohrten. Schließlich erreichten wir die Gemeinschaftshalle. Vor der Tür stand bereits eine kleine Schlange.
»Sandy!«, rief einer der Wartenden. »Da ist sie! Sandy!«, stimmten ein paar andere ein und scharten sich um mich. Ich spürte, wie Bobby mich wieder packte und rückwärts durch die Tür zog, die sich mit einem Knall hinter uns schloss. Keuchend lehnten wir uns mit dem Rücken an das warme Holz, während uns die Schauspieler, die im Saal einen kleinen Kreis gebildet hatten, erstaunt anstarrten.
»Also wirklich!«, stieß ich atemlos hervor, und meine Stimme hallte durch den Saal. »Sind wir denn hier in der Twilight Zone oder was?«
Helena sprang auf. »… sagte Dorothy, als sie in Oz landete. Danke, Sandy, dass du uns Dorothys ersten Satz auf so dramatische Weise nahegebracht hast«, rief sie. Sofort entspannten sich die entsetzten Gesichter, und es wurde reihum genickt. »Eine moderne Note in einer altbekannten Geschichte«, setzte Helena noch eins drauf.
* * *
Nach der Theateraufführung in Bobbys erster Klasse drückte Mary endlich die Stopptaste und nahm die Videokassette aus dem Gerät. Jack kippte den Rest kalten Kaffee hinunter und hoffte, dass er ihm half, wach zu bleiben.
»Mary, ich muss heute Abend wirklich noch nach Limerick zurück«, verkündete er mit einem demonstrativen Blick zur Uhr. In der ganzen Zeit, die er hier verbracht hatte, war Sandys Name ein einziges Mal erwähnt worden. Er hatte das Gefühl, dass er erst einmal in Marys Leben eingeführt werden musste, ehe sie zu anderen Themen übergehen konnten. Überall im Wohnzimmer standen gerahmte Fotos von Bobby: als neugeborenes Baby, als Kleinkind, auf seinem ersten Fahrrad, am ersten Schultag, bei der Erstkommunion, bei der Firmung, beim Schmücken des Weihnachtsbaums, beim Sprung in den Pool, beim Sommerurlaub in der Sonne. Erst ein Kahlkopf, dann blond, dann hellbraun. Zahnlos, zahnlückig, mit Zahnspange. Im Zimmer gab es keine Uhr. Die Zeit war in jedes Bild eingeprägt, dann blieb sie stehen – als dürfte sie nach dem letzten Foto, Bobby und Mary an Bobbys sechzehntem Geburtstag, nicht weitergehen.
Inzwischen war Mary achtunddreißig. Sie wohnte über ihrem Secondhandladen, in dem man Kleider, Schuhe,
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