Vermiss mein nicht
machen wir hier?«, fragte ich.
»Wir werden deine Schachteln ausräumen.«
»Warum?«
Er antwortete nicht, aber nicht etwa, weil er mich ignorierte, sondern vermutlich, weil er mich gar nicht hörte. Er lauschte auf ganz andere Dinge. Langsam räumte er die oberste Kiste aus. Als Erstes legte er Mr. Pobbs behutsam auf den Boden, dann reihte er die restlichen Gegenstände an der Wand auf, ging zur nächsten Kiste über und verfuhr mit ihr auf die gleiche Weise. Zwar verstand ich immer noch nicht, was er eigentlich vorhatte, aber ich ging ihm zur Hand, so gut ich konnte. Zwanzig Minuten später lagen meine gesamten Habseligkeiten, die sich hier eingefunden hatten, in sechs ordentlichen langen Reihen auf dem Holzfußboden. Unwillkürlich lächelte ich, denn jeder Gegenstand, von der eher unpersönlichen Heftmaschine bis zu meinem geliebten Mr. Pobbs, öffnete für mich eine Tür zu bisher verschlossenen und verdrängten Erinnerungen.
Bobby sah mich an.
»Was?«
»Fällt dir nichts auf?«
Ich ließ den Blick über die Reihen schweifen. Mr. Pobbs, Heftmaschine, T-Shirt, etwa zwanzig einzelne Socken, ein Stift mit eingraviertem Namen, die Akte, wegen deren Verschwinden ich Ärger gekriegt hatte … Übersah ich vielleicht etwas? Ich warf Bobby einen verständnislosen Blick zu.
»Was ist mit dem Pass?«, fragte er ausdruckslos.
Schon wieder eine Erinnerung, die mir ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Als ich fünfzehn war, planten meine Eltern einen Wanderurlaub in Österreich, aber am Abend vor unserer Abreise war plötzlich mein Pass verschwunden. Ich wollte ohnehin nicht wegfahren und hatte in den vorhergegangenen Monaten ständig über die Reise gejammert. Wenn ich eine Woche nicht da war, versäumte ich zwei Sitzungen bei Mr. Burton. Aber das war nicht der einzige Grund, weshalb ich nicht wegwollte. Jede Phobie beeinträchtigt das Leben des Betroffenen, und weil ich solche Angst hatte, etwas zu verlieren, verreiste ich nicht mehr gern. Denn was sollte ich tun, wenn mir in Österreich etwas verloren ging? An einem unbekannten Ort, an den ich womöglich nie mehr zurückkehren würde! Doch als mein Pass verschwand, war plötzlich alles anders: Die zwei Sitzungen bei Mr. Burton waren vergessen, und ich wollte nur noch meinen Pass finden und verreisen, alles, nur nicht noch etwas verlieren.
Die Reise wurde abgeblasen, weil es zu spät war, einen neuen oder auch nur einen vorläufigen Ausweis für mich ausstellen zu lassen, aber in diesem einen Fall waren meine Eltern genauso aufgeregt und suchten genauso fieberhaft. Den Ausweis nach all den Jahren hier zu entdecken, zerfleddert und abgewetzt, mit einem einfältigen Foto von mir als Elfjähriger – das war schlicht sensationell. Aber als ich wieder auf den Boden sah, erstarb mein Lächeln. Der Ausweis war nicht mehr da!
So schnell ich konnte, stieg ich über die aufgereihten Gegenstände hinweg, stolpernd, weil ich schnellstens zu den Kartons gelangen wollte, um sie zu durchsuchen. Bobby hatte wortlos den Raum verlassen. Zuerst dachte ich, er hätte es aus Rücksicht auf mich getan, doch dann kehrte er im Handumdrehen mit einer Polaroidkamera zurück und forderte mich auf, zur Seite zu gehen. Wortlos machte ich Platz, er richtete die Kamera auf den Boden, drückte ab, zog das quadratische Bild heraus, schüttelte es, inspizierte es und verstaute es schließlich ordentlich in einer Plastikhülle.
»Ich hab diese Kamera vor Jahren gefunden«, erklärte er, und ich hörte einen traurigen Unterton in seiner Stimme. »Aber es ist schwierig, den richtigen Film dafür zu kriegen, ich weiß nicht mal, ob er überhaupt noch hergestellt wird. Zum Glück hab ich hin und wieder mal eine Packung davon gefunden, und ich achte darauf, die Fotos nicht zu verschwenden. Das einzig Schwierige daran ist nur, dass man oft zu spät merkt, wenn eine von den vielen Millionen Sekunden im Leben wirklich wichtig ist. Wenn einem klarwird, wie kostbar ein Augenblick ist, ist er meistens schon vorbei.« Er schwieg erschöpft. Behutsam berührte ich ihn am Arm, und er blickte überrascht auf, als hätte er mich und die Kamera vollkommen vergessen. Aber dann kehrte das Licht in seine Augen zurück, und er fuhr fort: »So legt man den neuen Film ein. Ab heute fotografierst du bitte jeden Morgen diese Sachen.« Damit drückte er mir die Kamera in die Hand, aber bevor er ging, fügte er noch hinzu: »Und dann schlage ich vor, du fängst mit den anderen Fotos an.«
»Mit welchen anderen
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