Vermiss mein nicht
Fotos?«
Er blieb an der Tür stehen, und auf einmal sah er viel jünger aus als neunzehn, ein verlorener kleiner Junge. »Ich weiß nicht, was hier vorgeht, Sandy. Ich weiß nicht, warum wir alle hier sind, wie wir hergekommen sind und schon gar nicht, was wir tun sollen. Andererseits wusste ich das zu Hause bei meiner Mum auch nicht«, fügte er grinsend hinzu. »Aber soweit ich es verstehe, bist du deinen Habseligkeiten hierhergefolgt, und jetzt verschwindet Tag für Tag ein Gegenstand, der dir gehört. Ich weiß nicht, wohin, aber wo es auch sein mag – ich finde, du solltest einen Beweis dafür haben, dass du hier warst. Einen Beweis, dass es uns gibt.« Sein Lächeln verblasste. »Ich bin hundemüde, Sandy, ich gehe jetzt ins Bett. Dann bis morgen um sieben bei der Ratsversammlung.«
Dreiundvierzig
In Barbara Langleys Gepäck gab es nicht viel, was sich als Kleidung für eine Gemeindeversammlung eignete, wahrscheinlich weil sie nicht damit gerechnet hatte, auf ihrer Urlaubsreise nach New York, bei der sie vor über zwanzig Jahren ihre Tasche verloren hatte, vor Gericht erscheinen zu müssen. Woran man mal wieder sehen kann, dass man nie weiß, was einem bevorsteht.
Von den Theaterproben hielt ich mich lieber fern. Es genügte ja auch, wenn ich später dazustieß, denn Helena hatte das Stück unter Kontrolle, während ich mich ehrlich gesagt nicht sonderlich dafür interessierte. Ich verbrachte den Tag, indem ich für Bobby, der sich aus absolut verständlichen Gründen ins Bett zurückgezogen hatte, im Fundbüro aufpasste. Um mich zu beschäftigen, und auch, weil es mir Spaß machte, sah ich mich in der Abteilung für Überlängen um und stürzte mich mit dem Engagement eines Bären, der auf einen prall gefüllten Picknickkorb gestoßen ist, auf die Sonderangebote. Aufgeregt zog ich Sachen aus den Körben, die ich mir zu Hause schon immer gewünscht hatte, und hätte vor Wonne am liebsten geschnurrt wie eine Katze, während ich Blusen anprobierte, deren Ärmel mir tatsächlich bis zu den Handgelenken reichten, T-Shirts, die meinen Bauchnabel bedeckten, und Hosen, die nicht nach Hochwasser aussahen. Jedes Mal, wenn Stoff einen Bereich meiner Haut berührte, der sonst meist bloßlag, rieselte ein wohliger Schauer durch meinen Körper. Was diese paar Zentimeter ausmachen! Vor allem wenn man an einem kalten Wintermorgen an der Bushaltestelle steht und verzweifelt die Ärmel seines Lieblingspullis in die Länge zu ziehen versucht, damit sie wenigstens den wütend rasenden Puls ein bisschen wärmen. Zwei mickrige Zentimeter, die für die meisten Leute keine Rolle spielten, stellten für mich den Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Tag dar, zwischen innerem Frieden und äußerem Hass, zwischen Leugnen und der Erkenntnis eines überwältigenden, wenn auch temporären Wunschs, endlich einmal genauso zu sein wie alle anderen. Ein paar Zentimeter kleiner, glücklicher, reicher, zufriedener, wärmer.
Hin und wieder klingelte das Glöckchen über der Tür, und genau wie am Ende der Schulpause fand meine Hochstimmung dann ein abruptes Ende. An diesem Tag kam die Mehrzahl der Kunden aus einem einzigen Grund ins Fundbüro, nämlich um mich in Augenschein zu nehmen – die Frau, von der man sprach, die Frau, die zu viel wusste. Menschen aller Nationen blickten mir erwartungsvoll in die Augen, hofften auf einen Funken des Erkennens, und wenn nichts dergleichen geschah, verließen sie den Laden wieder, gebeugt unter der Last der Enttäuschung. Jedes Mal, wenn das Glöckchen ertönte und mich wieder ein Augenpaar durchbohrte, machte mich der Gedanke an den bevorstehenden Abend noch ein bisschen nervöser, und so sehr ich mich innerlich dagegen stemmte, rasten die Zeiger dennoch unaufhaltsam vorwärts, und ehe ich es mich versah, war der Abend zur Stelle.
Anscheinend hatte das gesamte Dorf beschlossen, an der Versammlung in der Gemeinschaftshalle teilzunehmen. Bobby und ich bahnten uns einen Weg durch die Menge, die sich langsam auf die große Eichentür zu bewegte. Die Neuigkeit, dass jemand aufgetaucht war, der möglicherweise etwas über die Familie zu Hause wusste, hatte Menschen aller Nationalitäten, Rassen und Religionen zu Tausenden in die Halle gelockt. Die warme orange Sonne versank gerade hinter den Bäumen und produzierte eine Art zuckendes Discolicht, während wir mit zügigen Schritten durch den Wald marschierten. Über uns kreisten Falken am Himmel, gefährlich nah an den Baumwipfeln, als
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