Vermiss mein nicht
fühlte sie sich dadurch sicherer, jedenfalls fällte sie eine Entscheidung. »Kommen Sie doch rein«, sagte sie, winkte Jack zu sich und trat von der Tür zurück.
Auch Jack sah sich um und betrat unter den aufmerksamen Blicken des Nachbars zögernd und mit einem verlegenen Lächeln das Haus. Drinnen hörte er, wie Mrs. Shortt mit Tellern und Tassen in der Küche herumklapperte und den Wasserkocher anstellte. Auch das Innere des Hauses war makellos. Von der Haustür kam man direkt ins Wohnzimmer. Es roch nach Möbelpolitur und Lufterfrischer, als hätte man die Fenster offen gelassen und die Düfte aus dem Garten hereinströmen lassen. Keine Unordnung, der Teppich sauber gesaugt, das Silber poliert, die Messingbeschläge gewienert, das Holz glänzend gewachst.
»Ich bin hier, Jack«, rief Mrs. Shortt aus der Küche, als wären sie alte Freunde.
Dass die Küche ebenso vor Sauberkeit strahlte wie das übrige Haus, wunderte Jack nicht. Die Waschmaschine lief, im Hintergrund spielte das Radio, und das Wasser im Kocher näherte sich dem Siedepunkt. Aus der Küche führte eine Glastür in den Garten hinter dem Haus, der ebenso gepflegt war wie der Vorgarten. Mittendrin stand ein großes Vogelhäuschen, in dem gerade ein gierig aussehendes Rotkehlchen Körner pickte und zwischendurch ein Lied schmetterte.
»Ihr Haus ist wunderschön, Mrs. Shortt«, sagte Jack und folgte ihrer Aufforderung, am Küchentisch Platz zu nehmen. »Vielen Dank für die nette Einladung.«
»Gern geschehen – Sie können gern Susan zu mir sagen«, antwortete sie, während sie Wasser in die Teekanne füllte und einen Teewärmer darüberzog. Das letzte Mal hatte Jack diese Art der Zubereitung bei seiner Mutter gesehen. Eine Hand auf dem Teewärmer, blieb sie an der Küchentheke stehen, und trotz ihrer Herzlichkeit wirkte sie nach wie vor sehr wachsam. »Seit der Zeit, als Sandy ein Teenager war, sind Sie der erste ihrer Freunde, der hier vorbeikommt«, bemerkte sie nachdenklich.
Darauf wusste Jack keine Antwort.
»Danach haben sie es lieber sein lassen«, fuhr Susan fort. »Wie gut kennen Sie Sandy denn?«
»Längst nicht gut genug.«
»Nein«, sagte sie, mehr zu sich selbst. »Das hab ich mir gedacht.«
»Seit ich sie suche, erfahre ich jeden Tag etwas Neues über sie«, erklärte er.
»Sie suchen Sandy?« Susan hob die Augenbrauen.
»Deshalb bin ich hier, Mrs. Shortt …«
»Susan, bitte«, unterbrach sie ihn. »Wenn ich den Namen Mrs. Shortt höre, sehe ich unwillkürlich meine Schwiegermutter vor mir, und mir steigt der Geruch von Kohl in die Nase. Bei dieser Frau gab es nur Kohl, Kohl und nochmal Kohl.« Sie schüttelte den Kopf und lachte.
»Deshalb bin ich hier, Susan«, verbesserte sich Jack. »Ich will Ihnen auf gar keinen Fall Sorgen machen, aber ich war, wie Sie ja wissen, letzte Woche mit Sandy verabredet, aber sie ist nicht aufgetaucht. Seither versuche ich, Kontakt mit ihr aufzunehmen.« Dass er ihr Auto und ihr Telefon gefunden hatte, erwähnte er absichtlich nicht. »Bestimmt ist alles in Ordnung«, fuhr er beschwichtigend fort, »aber ich möchte, nein, ich
muss
sie wirklich unbedingt finden.« Er hielt den Atem an. Würde Sandys Mutter jetzt in Panik ausbrechen? Erleichtert und auch ein wenig schockiert sah er, wie ein müdes Lächeln auf ihrem Gesicht erschien, ohne jedoch die Augen zu erreichen.
»Sie haben recht, Jack, Sie kennen Sandy wirklich nicht gut genug.« Einen Moment wandte sie ihm den Rücken zu, um den Tee abzugießen. »Ich möchte Ihnen gern etwas über meine Tochter sagen, die ich übrigens von Herzen liebe. Sandy hat die Fähigkeit, sich so gut zu verstecken wie eine Socke in der Waschmaschine. Niemand weiß, wo die Socke ist, und genauso wenig weiß man manchmal, wo Sandy ist. Aber wenn sie wieder auftaucht, dann sind wir alle für sie da, bereit, sie willkommen zu heißen.«
»Das hab ich von allen gehört, die ich gefragt habe.«
»Mit wem haben Sie denn noch gesprochen?«, fragte Susan.
»Mit ihrem Vermieter, ihren Klienten, ihrem Arzt …« Schuldbewusst brach er ab. »Ich bin erst jetzt zu Ihnen gekommen, weil ich Sie nicht unnötig belästigen wollte.«
»Mit ihrem Arzt?«, hakte Susan nach, ohne darauf einzugehen, dass Jack sie als Letzte befragt hatte. Anscheinend war sie nicht gekränkt, sondern interessierte sich viel mehr für die Erwähnung von Sandys Arzt.
»Ja, Dr. Burton«, antwortete Jack langsam, denn er war unsicher, ob Sandy wollte, dass ihre Mutter von ihm
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