Vermiss mein nicht
beenden würde.
Donals blaue Augen, die einzige Ähnlichkeit zwischen den Brüdern, strahlten ihn so lebendig an, dass Jack fast erwartete, er würde ihm gleich verschmitzt zuzwinkern. Aber ganz gleich, wie lang und intensiv er das Foto anstarrte, er konnte ihm kein Leben einhauchen, er konnte nicht hineingreifen und seinen Bruder herausholen, er konnte das Aftershave nicht riechen, mit dem Donal sich immer einnebelte, er konnte ihm nicht die braunen Haare zerzausen und die Frisur ruinieren, was ihn immer so ärgerte, und er konnte seine Stimme nicht hören, wie sie liebevoll mit ihrer Mutter sprach. Nach einem Jahr erinnerte er sich noch gut an seine Berührung und seinen Geruch, aber diese Erinnerung genügte ihm nicht – im Gegensatz zum Rest der Familie.
Das Foto stammte vom vorletzten Weihnachtsfest, sechs Monate, bevor er verschwunden war. Gewöhnlich besuchte Jack seine Mutter einmal pro Woche zu Hause, wo Donal als Einziger der sechs Geschwister immer noch wohnte. Dann plauderten sie zwar ein, zwei Minuten miteinander, aber an diesem Weihnachten hatte Jack sich das letzte Mal ausführlicher mit Donal unterhalten. Donal hatte ihm die üblichen Socken geschenkt, Jack hatte ihm die Taschentücher überreicht, die er selbst im Jahr davor von seiner ältesten Schwester bekommen hatte, und beide hatten gemeinsam über ihre einfallslosen Geschenke gelacht.
Donal war sehr munter gewesen, denn er hatte seit September einen neuen Job als Computertechniker. Es war seine erste richtige Arbeitsstelle, nachdem er seinen Abschluss an der Limerick University gemacht hatte, und bei der Feier wäre ihre Mutter vor lauter Stolz auf ihren Jüngsten fast geplatzt. Donal hatte selbstbewusst berichtet, wie viel Spaß ihm die Arbeit machte, und auch Jack vermerkte sehr positiv, dass er viel reifer geworden war, sich immer mehr an seine neue Rolle gewöhnte und das Studentenleben allmählich hinter sich ließ.
Jack und Donal hatten sich nie sehr nahegestanden. Die Familie hatte sechs Kinder, und Donal war ein völlig unerwarteter Nachzügler – keiner war überraschter gewesen als ihre Mutter Frances, als sie mit siebenundvierzig von ihrer erneuten Schwangerschaft erfuhr. Jack, der zwölf Jahre älter war als Donal, verließ das Haus, als der Kleine sechs war, so war ihm sein kleiner Bruder nie wirklich vertraut geworden. Die letzten neunzehn Jahre waren sie Brüder, aber nie Freunde gewesen.
Nicht zum ersten Mal fragte Jack sich, ob seine Chancen, Donal zu finden, größer wären, wenn er ihn besser gekannt hätte. Wenn er sich mehr um seinen kleinen Bruder bemüht, ihn öfter besucht oder sich ausgiebiger mit ihm unterhalten hätte, wäre er vielleicht in der Nacht nach seinem Geburtstag zusammen mit ihm durch die Kneipen gezogen. Vielleicht hätte er ihn daran hindern können, den Imbissschuppen zu verlassen, oder er hätte ihn begleiten und sich mit ihm zusammen ein Taxi nehmen können.
Vielleicht wäre Jack dann aber auch zusammen mit Donal verschwunden und dort gelandet, wo er jetzt war. Wo immer das sein mochte.
Acht
Jack schüttete die dritte Tasse Kaffee hinunter.
Viertel nach zehn.
Sandy Shortt war spät dran. Nervös zappelte er mit den Beinen unter dem Tisch herum, seine linke Hand trommelte aufs Holz der Tischplatte, und mit der rechten signalisierte er der Kellnerin, dass er noch einen Kaffee brauchte. Trotzdem bemühte er sich, positiv zu denken. Sie würde kommen. Er wusste es.
Um elf versuchte er es zum fünften Mal auf ihrem Handy. Es klingelte und klingelte, dann kam die Ansage: »Hallo, hier ist Sandy Shortt. Tut mir leid, aber ich bin im Moment nicht erreichbar. Wenn Sie mir eine Nachricht hinterlassen, rufe ich so bald wie möglich zurück.« Biep.
Jack legte auf.
Halb zwölf. Jetzt war sie schon zwei Stunden überfällig. Jack hörte sich noch einmal die Nachricht an, die Sandy am Vorabend auf seine Mailbox gesprochen hatte.
»Hi, Jack, hier ist Sandy Shortt. Ich wollte nur schnell unseren Termin morgen um 9 Uhr 30 in Kitty’s Café in Glin bestätigen. Ich fahre heute Nacht«, erklärte sie und fügte mit weicherer Stimme hinzu: »Wie Sie wissen, schlafe ich ja für gewöhnlich sowieso nicht.« Ein leises Lachen. »Deshalb werde ich sicher schon früh da sein, und ich freue ich mich sehr, Sie endlich persönlich kennenzulernen, nachdem wir so oft miteinander telefoniert haben. Und Jack« – sie machte eine Pause –, »ich verspreche Ihnen, dass ich mein Bestes tun werde, um Ihnen
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