Vermiss mein nicht
noch schlimmer werden, als es eh schon ist …« Ich unterbrach mich, weil ich unsicher war, ob ich Garda Rogers sagen konnte, was ich als Nächstes empfunden hatte.
»Was ist dann passiert, Sandy?«
Ich schluckte schwer.
»Hast du irgendwas gemacht?«
Ich nickte, und Garda Rogers rutschte mit dem Hinterteil ein Stück näher an die Stuhlkante.
»Was hast du denn gemacht?«
»Ich … ich …«
»Es ist okay, du kannst es mir ruhig sagen.«
»Ich hab sie weggewünscht«, stieß ich hastig hervor, wie wenn man sich ganz schnell ein Pflaster abreißt, damit es nicht so wehtut.
»Wie bitte? Was hast du getan?«
»Ich hab sie weggewünscht. Ich hab mir gewünscht, sie würde verschwinden.«
»Ah.« Garda Rogers lehnte sich langsam wieder zurück. »Jetzt versteh ich.«
»Nein, Sie sagen bloß, dass Sie es verstehen, aber eigentlich stimmt das gar nicht. Ich hab mir wirklich gewünscht, sie wäre weg, mehr, als ich mir in meinem ganzen Leben je was weggewünscht habe. Noch mehr als bei meinem Onkel Fred, der einen Monat bei uns gewohnt hat, weil er sich von Tante Isabel getrennt hatte, und der hat geraucht und gesoffen und das ganze Haus verstunken. Da wollte ich auch, dass er verschwindet, aber nicht so sehr wie bei Jenny-May. Und ein paar Stunden, nachdem ich es mir gewünscht hatte, ist Mrs. Butler zu uns gekommen und hat erzählt, dass sie nicht mehr da ist.«
Garda Rogers beugte sich wieder vor. »Du hast Jenny-May also gesehen, ein paar Stunden, bevor ihre Mutter zu dir nach Hause gekommen ist?«
Ich nickte.
»Um welche Uhrzeit war das?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Gibt es irgendwas, was dir helfen könnte, dich daran zu erinnern? Denk doch mal nach – was hast du da gerade gemacht? War sonst noch jemand da?«
»Ich hab die Tür für meine Grandma und meinen Granddad aufgemacht, die sind zum Mittagessen gekommen, und als Jenny-May vorbeigeradelt ist, hab ich grade meine Oma umarmt. Und da hab ich es mir gewünscht.« Ich zuckte innerlich zusammen.
»Dann war es also um die Mittagszeit. War jemand bei ihr?« Inzwischen kauerte er auf der Stuhlkante, kümmerte sich aber überhaupt nicht mehr um meine Sorgen wegen der Wegwünscherei. Stattdessen stellte er mir eine Frage nach der anderen – was Jenny-May gemacht hatte, mit wem sie zusammen war, wie sie aussah, was sie anhatte, wo sie meiner Meinung nach wohl hingefahren war. Jede Menge Fragen, noch und nöcher, immer wieder von vorn, bis mir der Kopf wehtat und ich kaum mehr wusste, was ich antworten sollte. Wie sich herausstellte, war ich, weil ich Jenny-May als Letzte gesehen hatte, so eine große Hilfe für die Polizei, dass ich an diesem Tag früher nach Hause gehen durfte. So hatte Jenny-Mays Verschwinden schon wieder eine gute Seite für mich.
Zum ersten Mal hatte ich wegen Jenny-Mays Verschwinden ein schlechtes Gewissen bekommen, als ich mir mit meinem Dad einen Dokumentarfilm angesehen hatte, in dem hundertfünfzigtausend Menschen in Washington D.C. zusammenkamen und gleichzeitig positive Gedanken dachten, worauf prompt die Verbrechensrate zurückging. Das war der Beweis, dass Gedanken tatsächlich etwas bewirkten. Aber von da an, als Garda Rogers mir sagte, es sei nicht meine Schuld, dass Jenny-May verschwunden war, und ein Wunsch könne nicht auf diese Art in Erfüllung gehen, wurde ich realistischer. Ich wurde erwachsen.
Aber vierundzwanzig Jahre später stand ich vor Grace Burns’ Büro und fühlte mich wieder genauso wie als Zehnjährige. Genau das gleiche Gefühl, für etwas verantwortlich zu sein, was jenseits meiner Kontrolle lag, aber gleichzeitig die kindische Überzeugung, dass ich mir, seit ich zehn war, in meinem Unterbewusstsein heimlich gewünscht hatte, einen Ort wie diesen hier zu entdecken.
Achtundvierzig
»Ist was mit dir, Jack?«, fragte Alan, als Jack ihm gegenüber an dem niedrigen Bartisch Platz genommen hatte. Sein Gesicht war voller Sorge, und Jack begann wieder zu zweifeln.
»Nein, nein, mir geht’s gut«, antwortete Jack so ruhig er konnte und nahm auf dem Hocker Platz.
»Du siehst aber beschissen aus«, entgegnete Alan und blickte auf Jacks Bein hinunter, das hektisch zuckte.
»Nein, nein, alles klar.«
»Sicher?« Alan kniff argwöhnisch die Augen zusammen.
»Ja.« Jack trank einen Schluck von seinem Guinness und musste sofort wieder an Alans Lüge denken.
»Also, was gibt’s?«, fragte Alan, wieder ganz der Alte. »Am Telefon hast du dich angehört, als brennt es. Hast du mir was
Weitere Kostenlose Bücher